Reflexion über die Grausamkeit

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Es gibt zwei entscheidende Wendungen im Leben eines jeden reflektierten Menschen, die er oder sie durchlaufen muss. Diese Wendungen sind die Grausamkeiten, mit denen wir umzugehen haben.

Im Kind beginnt die Welt zu wachsen. Und gehen wir davon aus, dass die Eltern sich des Kindes freuen und ihm eine schöne Kindheit bescheren wollen, so darf es bestenfalls voller Freude und Leichtigkeit die Welt und ihre Eigenheiten erkunden. Es wird dem Kind erzählt, dass der Weihnachtsmann existiert, dass der Storch die Kinder bringt und dass in jedem ein Prinz oder eine Prinzessin steckt. 

Mit dem Älterwerden verblasst diese Naivität und wir erfahren, dass es auch so etwas wie Kriege, Mord und Vergewaltigung existieren.

Das ist die erste Grausamkeit: Die Erkenntnis, dass die Welt ein grausamer Ort ist. 

Es ist eine Erschütterung. Es ist die Gewöhnung daran, dass die Welt grundsätzlich zu Bösem fähig ist. Dass jeder Mensch ein Laster trägt und dass jeder Mensch dem anderen, ob bewusst oder unbewusst, Leid zufügt. Es ist die Gewöhnung an Krieg, an Kampf und an Schmerz. 

Die Welt ist kein heiler Ort.

Die zweite Grausamkeit besteht darin, dass wir trotz der ersten Grausamkeit keine andere Wahl haben, als an die Heilung der Welt zu glauben. 

Menschen, die in der ersten Grausamkeit gefangen sind, verfallen in Zynismus, Depression und Selbstgerechtigkeit. Sie finden sich mit ihrer Gewohnheit ab. Sie glauben, dass die Realität gestört ist und dass sie – das zeigt die Geschichte – so sein muss. Sie tun nur das Nötige, aber eigentlich tun sie nicht das, was von ihnen verlangt wird: Mit allen Kräften gegen diese Grausamkeit anzukämpfen und an Gerechtigkeit zu glauben.

Stattdessen legen sie ihre Hoffnungen in die Hände von wenigen, von denen sie glauben, dass diese wirklich etwas verändern können. Sie ändern vielleicht ihre Grundsätze, aber nicht ihre Handlungen. Sie ändern vielleicht ihre Propheten, doch sie bleiben ungläubig. Sie glauben nicht an eine heile Welt, sie glauben an einen heilen Rückzugsort.

Es gibt noch eine dritte Grausamkeit. Sie entspringt aus Unverständnis, Neid und Ohnmachtlosigkeit. Sie besteht in der Projektion. Sie geschieht, wenn die Menschen, die in ihrem Rückzugsort hausen, an ihre zutiefst menschliche Pflicht erinnert werden.

Die dritte Grausamkeit besteht darin, dass diejenigen, die die innere Stärke gefunden haben, wirklich dazu beitragen, die Welt weniger grausam zu machen, die zynischen, depressiven und selbstgerechten Menschen demütigen. 

Die Demütigung besteht darin, dass sie das lebende Beispiel dafür sind, dass die letzteren noch nicht stark genug sind. Sie zeigen ihnen immer wieder aufs Neue “Ich tue und schaffe etwas, was du dir insgeheim erträumst”. Die Demütigung ist subtil und die kleinen, ohnmächtigen Kinder können nichts anderes tun, als ihrer Ohnmächtigkeit direkt ins Auge zu blicken.

Sie können bloß verzweifelt reagieren. Sie haben keine Kraft. Es kommt ihnen vor, als hätten die anderen einen unfairen Vorteil. Sie fragen sich, woher kommt die Stärke der anderen?

Die Stärke kommt daher, dass es keine andere Möglichkeit gibt, die Grausamkeit der Welt zu überwinden, als ihr zu begegnen, sie anzunehmen und zu umarmen. Sie hat es sich nicht ausgesucht, in der Welt zu hausen.

Das ist das Grausame: Der Kampf gegen Grausamkeit offenbart die eigene unvermeidliche Grausamkeit eines jeden Menschen, die unvermeidbar in der Demütigung gegenüber den Ohnmächtigen besteht. Die Ohnmächtigen werden es einem nicht danken. Sie werden die Demütigung aber vielleicht eines Tages vergessen.


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