[2020-10-15] : wenn schopenhauer und nietzsche schreiben, dass der grund des lebens der wille ist, ein blinder, zielloser drang, nur um des lebens willen, dann scheint es sich genauso mit den leidenschaften zu verhalten. wenn man den leidenschaften etwas besonderes attestieren möchte, was nicht bloß ein natürlicher trieb ist, dann sind sie künstlich und blind. ohne vernunft. wenn ich von einem menschlichen leben spreche, was man wirklich als leben bezeichnen kann, dann ist das leben, wenn man all die tierische natürlichkeit entkleidet, nichts anderes als leidenschaft. es scheint mir nun drei (rein-)arten von lebensweisen zu geben. die erste ist das leben voller leidenschaft, das sind diejenigen menschen, die die eigenartigsten in der gesellschaft sind. sie finden sich in unterschiedlichsten formen, lieben das unsinnige, unvernünftige, das kleine und unscheinbare. wie oft wundere ich mich über diejenigen menschen, deren einzige leidenschaft züge sind. aber genauso können diese menschen sich über die kunst- und musikbegeisterten wundern. und je mehr leidenschaften in einem solchen leben vorherrschen, desto individiueller und einsamer ist es, denn der mensch wird sich tagtäglich fragen, was denn bei ihm falsch laufe, dass er mit seiner leidenschaft ganz allein ist. die zweite art von lebensweisen scheint mit in den menschen zu stecken, die jeden tag davon träumen, einer leidenschaft nachzugehen, aber keinen willen dazu haben. das ist die art von menschen, denen die ersteren beileid zumessen, weil sie die unsinnige vorstellung haben, den anderen etwas voraus zu haben. ohja, die zweite art, weint täglich im bett auf der beständigen suche nach leidenschaften, die die sinnlosigkeit ihres lebens, irgendwie verbessern könnte. man könnte sogar sagen, dass die zweite art von lebensweisen nur eine einzige leidenschaft hat, nämlich die suche nach irgendeiner leidenschaft. vielleicht sind das diejenigen menschen, die besonders vernunftbegabt sind, weil sie mit jeder kurzen leidenschaft, die sie finden, wieder erkennen, dass sie keinen universellen wert hat, sondern nur den subjektiven, singulären wert, den sie ihm selbst beimessen. es fehlt der wille, zu akzeptieren, das die leidenschaft nur ihnen selbst eigen ist und je größer der verstand ist, desto größer ist der größenwahnsinn, doch eine leidenschaft zu finden, die ihre leidenschaftlosigkeit befriedigen kann. die letzte art ist wohl die scheußlichste, denn diese art von menschen setzen leidenschaften mit tierischem gleich. sie sind eins mit der natur und erleben sich überhaupt nicht als abgetrennte wesen. die einzige leidenschaft, die sie fröhnen, ist der sexualtrieb und das bedürfnis nach anerkennung. ihre leidenschaften sind illusorisch. sie schauen nur auf sich selbst, und das wird hochgelobt. jeder ist seines eigenen glückes schmied, sie haben kein bedürfnis nach gesellschaft und kein bedürfnis nach gemeinsamkeiten. denn sie sind sich alle gleich, wo keine not ist, ist auch kein bedürfnis. und selbst hoch angesehenen leuten sieht man nicht an, dass ihre wahre natur bloß die leidenschaft der dritten art entspricht. denn ihr engagement machen sie nicht aus leidenschaft zur leidenschaft, nicht bloß aus dem blinden willen, sondern sie versklaven die leidenschaft, nur um sich selbst zu dienen. all ihr wirken zielt auf sie selbst ab, auf ihre eigene habsucht. sie sind die, die sich nur um ihre eigene erhaltung sorgen. und wie schon angedeutet, das individuum, was man wirklich als individuum bezeichnen kann, ist der sack voller leidenschaften, der übrig bleibt, wenn man das tierische entkleidet. es gibt nur wenige individuen. und diese individuen sind gefährlich für die gesellschaft, weil sie das künstliche hineintreiben und nicht das tierische zur selbsterhaltung. die dringenden fragen, die sich nun ergeben, sind: wenn die leidenschaften blind sind, gibt es einen übergang zwischen den menschen der ersten und dritten art? ist es so, dass der blinde drang in der kindheit erlernt wird? es gibt immer wieder einige geister, die man trifft, die doch eine komplette lebenswende vollzogen haben, nach dem ein lebensereignis, ihre glückseligkeit, das zusammendenken von leidenschaft und natürlichkeit, zerstörte. die ärzte in der heutigen gesellschaft sind großartig, sie tun nichts, um die natürlichkeit auszutreiben. sie hätten die macht, so viel leid zuzufügen, es würde wahrscheinlich die ahnung von leid schon reichen, um die menschen zu verkünstlichen. die buddhisten sind eine leidenschaftliche kultur, die nur darauf bedacht ist, ihre aufgebaute kultur zu erhalten. sie haben erkannt, wie schmerzvoll die welt ist, sie durchfließt ein grenzenloser schmerz, ihnen bleibt nur die leidenschaft, den blinden drang zur erleuchtung.