In den letzten Jahren entwickelte sich das Café Technicus zum beliebtesten Treffpunkt der Stadt. Während die Straßen früher leer und unansehnlich waren, eröffnete Technicus, wie ihn die Leute seit jeher nannten, sein Geschäft, und trat damit eine unverhoffte Entwicklung los. Damals, blauäugig und am Anfang der besten Jahre, wusste er noch überhaupt nicht, was ihn erwartete; er studierte jahrelang erfolglos Informatik und hatte nur auf Anraten eines befreundeten Kommilitonen begonnen, sich selbstständig zu machen.
Technicus merkte jedoch schnell, was die Menschen auf die Straßen trieb. Sie erzähltem ihm bereitwillig, was ihnen in der Stadt fehlte und er wollte ihnen eine Zuflucht aus dem tristen Alltag in seinem kleinen Lokal bieten. Obwohl es nur für zwei Dutzend Leute Platz bot, zog es sie magisch an; die Ausstattung prahlte nicht mit Prunk und Eleganz; die Gäste erkannten sich selbst in der Einfachheit und Nettigkeit der Einrichtung wieder.
Alsbald begann Technicus Freundschaften mit seiner Kundschaft zu schließen unter denen sich einige junge Kulturschaffende befanden. Sein Café erblühte allmählich; seine Freunde griffen ihm gerne unter die Arme, denn sie hatten auch berechtigtes Interesse daran, den Ort zu gestalten und nebenbei bekamen sie kostenlos Kaffee; am Wochenende ertönten mal wilde, mal ruhige Klänge hinter den Glasscheiben; die hellen Wände wurden monatlich mit neuen, frischen Bildern von unbekannten Künstlern bestückt; Jung und Alt trafen hier aufeinander.
Die Entwicklung des Cafés inspirierte eine gesamte Stadt. Selbst Technicus, dessen nie vollendetes Informatik-Studium ihm das bloße Hantieren mit dem Computer beibrachte, begann sich mit der Kunst auseinanderzusetzen, obwohl er seit Lebzeiten nichts damit zu tun hatte und nun wohl zu alt für eine Künstlerkarriere war. Er bewunderte die Ästhetik anderer, sie selbst zu Papier zu bringen, misslang ihm jedoch jedes Mal.
Allerdings erkannte er bald, dass ihn seine Kontakte, die ihm das abgebrochene Studium einbrachten, von Nutzen sein konnten. Eben jener befreundete Kommilitone, der ihm zur Selbstständigkeit riet, blieb an der Universität und forschte an Implantaten, die es vermochten, in die Tiefen des Gehirns einzugreifen. Der Kommilitone hatte schon während der Studienzeit ein unheimliches Interesse für künstliche Intelligenzen entwickelt; er träumte ständig davon, eines Tages die Welt zu verändern; Steve Jobs und Bill Gates hatten es ihm vorgemacht und so setzte er immer dort das Maß; seine neueste Errungenschaft war ein Implantat, mit welchem Bilder vor dem geistigen Auge erzeugt wurden; wenn Jesus Wasser zu Wein verwandelt, so lässt er Blinde wieder sehen.
Als Technicus davon hörte, kam ihm die Idee, die Technologie für die Kunst zu nutzen. Es gab doch bereits Gemälde, die auf Algorithmen basieren. Was wäre das für eine unglaubliche Errungenschaft, wenn ein solches Implantat jeden Menschen zum Künstler erheben kann? Begeistert ging der Kommilitone dieses neue Projekt an und nach kurzen Testläufen ließ sich Technicus mutwillig einen Chip einpflanzen, der seine Retina mit dem motorischen Areal des Gehirns verband.
Es fehlten nur noch Daten und Übung. Um selbst künstlerisch tätig sein zu können, brauchte der Chip, eine Menge Bildmaterial, um die Künstliche Intelligenz zu füttern, die sein künstlerisches Unvermögen beheben sollte; das Internet vereinfachte diesen Vorgang erheblich; das Eintauchen in die Kunstwelt und all ihre Facetten war sogar ein wahrer Genuss, den er in seinen jungen Jahren nie erleben durfte; Technicus merkte, wie einfach ihm die Pinselstriche plötzlich von der Hand gingen; mit jedem neuen Tag erzielte er große Fortschritte. Er begann schließlich seine Werke mit auszustellen und bekam für seine Bilder immerfort bessere Rückmeldungen.
An einem grauen bewölkten Tag wandte sich eine schöne Frau an Technicus und fragte ihn, ob sie eine Einzelausstellung in seinem Café veranstalten könne. Es sei ihr wichtig und sie habe lange darüber nachgedacht. Er kannte sie bereits, da sie schon häufiger Nachmittage in seinem Café verbrachte; in den letzten Wochen kam sie jedoch nicht mehr vorbei. Er betrachtete die Schöne; ihr edles, schwarzes Kleid schmiegte sich an ihren anmutigen Körper; ihre Augen trugen eine schwermütige Ernsthaftigkeit in sich. Eine Einzelausstellung wäre schon etwas Gesondertes; seine Wände waren schon immer für alle Gäste da gewesen und nicht nur Einzelnen vorbehalten; das zeichnete auch sein Café aus; ihre Eindringlichkeit vermochte es schließlich ihn zu überzeugen. Nach wenigen Tagen erblickten die Gäste eine Reihe neuer, frischer Bilder, bei denen keines dem anderen glich und auch keines den Anspruch erhob, sich zum besten Bilde zu ernennen.
Technicus war mehr als erstaunt von den Gemälden, die ihn doch auf eine merkwürdige Art und Weise berührten, die er zuvor noch nicht erlebte. Neben ihren Bildern wirkten seine eigenen kraftlos und ohne Energie; er konnte sich auch nicht vorstellen, wie man zu solch abstrakten, skurril-schönen Motiven gelangte; entwurzelte, schwarzbefleckte Bäume, die in den Wolken schwebten, reihten sich neben pilzförmigen Brücken und hyänenhaften Fabelwesen; die Welt schien wie im tiefen Traume und doch ist sie nun Wirklichkeit. Eines der Bilder tat es ihm besonders an; darauf zu sehen war ein leeres, gemachtes Bett, während ringsherum die reinste Unordnung herrschte; Kleidung stapelte sich über umgeworfene Stühle; ein belebt verlassener Ort. Er wollte ihr das Bild abkaufen, doch sie schenkte es ihm und ließ ihn das Bild mit größter Akkuratheit hinter die Bar hängen.
Die Tage verstrichen und die Schöne kam wieder regelmäßig vorbei. Sie bestellte sich meist nur einen schwarzen Kaffee und blickte verträumt aus dem Fenster hinaus. An guten Tagen kramte sie aus ihrer Ledertasche ein Skizzenbuch und verbrachte Stunden damit, die weißen Seiten zu füllen; als Technicus einmal fragte, was sie hineinzeichne, erwiderte sie nur, dass Geheimnisse ihre Berechtigungen hätten; er hakte nicht weiter nach, denn er möchte seine Kundschaft ungern vergraulen; er mochte sie. An weniger guten Tagen verharrte sie auf ihrem Stuhl und blickte die immer wechselnden Bilder an den Wänden an, so als wünschte sie sich, in die Bilder, und damit ihren Landschaften und Traumwäldern, hinein zu tauchen. Wenn er Pause hatte, gesellte er sich zu ihr; sie sprachen meist über Kunst, seit der Ausstellung interessierte sich Technicus nur für wenig anderes; wenn eines seiner Bilder ausgestellt waren, fragte er stets, was sie denn davon halte; sie antwortete nach jeder Frage: „Es passt zu dir“ und sprach von den künstlerischen Qualitäten seiner Werke, die er alle schon kannte; er wünschte sich, dass sie mal sagte, was es in ihrem Innersten auslöst oder ob es sie überhaupt bewegt; sie wich immer aus.
Immer mehr versank Technicus nach der Arbeit darin, sich seinem künstlerischen Schaffen zu widmen, um sich zu verbessern. Er probierte bald neue Formen aus, die auf den Chip in seinem Kopf verzichteten; mit geschlossenen Augen ließ er seine Hände die Arbeit verrichten; er nutzte Tröpfchen-Techniken oder schmiss die Farben einfach auf seine Leinwände; die Resultate erinnerten ihn jedoch nur an seine ersten misslungenen Malversuche, die außer Chaos kaum künstlerischen Mehrwert hatten; sein fehlendes natürliches Talent brachte ihn jedes Mal zum Verzweifeln. Wieso ist ihm nicht das Glück beschert, mit seinem reinen Instinkt die schönsten Dinge der Welt zu kreieren?
Sowohl die schöne Frau als auch seine fehlende Genialität begannen die gesamte freie Zeit von Technicus zu beanspruchen; wenn er nicht malen und sich dann unzufrieden in Selbstzweifel versenken konnte, suchten ihn Albträume heim; sobald begann er das Implantat in seinem Kopfe zu verfluchen; egal wie sehr sich seine Fähigkeiten verbesserten, die Intensität des ihm geschenkten Bildes, das noch immer hinter seiner Bar hängt, scheint unerreichbar. Und noch erschreckender kommt hinzu, dass er bemerkte, dass er sich in die Frau verliebte, die sein Café alleine besucht und verträumt aus dem Fenster blickt.
Während eines angenehmen Gesprächs mit der Schönen fragte Technicus, was ihr durch den Kopf ginge, wenn sie ihre Bilder male; er wollte alles wissen; nach langem Zögern entgegnete sie, dass alles, was sie malte und schuf schlichte, persönlich gefärbte Abbilder ihres Weges, den sie täglich beschritt, seien; genauer und besser konnte sie es nicht beschreiben; er hakte weiter nach, ob es an ihrer Beziehung läge; sie befand sich in keiner.
Er blickte ihr in die Augen, sie blickte zurück; als sein Mund zweimal zum Sprechen ansetzten, unterbrach sie ihn: „Ich bin noch nicht bereit.“
Seit dieser Frage verstrich ein Jahr ohne besondere Vorkommnisse; wie sollte es auch welche geben; Technicus widmete sich nur seiner eigenen Kunst und seine Kundschaft kam immer noch selbst bereitwillig für ihr Abendprogramm auf; der alltägliche Betrieb entschleunigte sich; in der Stadt gab es neben dem Café Technicus neue Alternativen und seit der Einzelausstellung der Schönen brachte Technicus auch keine eigenen Ideen mehr ein. Er hing nur ab und an noch eigene Bilder auf, die jedoch meist nur solange an der Wand hingen, bis die schöne Frau vorbeikam und sodann wechselte er sie mit neueren aus. Eines seiner Bilder zierte nur den schlichten Spruch ‚Wann bist du bereit?‘; daraufhin ging sie zielstrebig zu ihm und versicherte ihm, dass sie es ihm mitteile, wenn sie es wisse; ein Jahr des erfolglosen Schaffens, ein Jahr des erfolglosen Wartens.
Als sie ihm nun endlich eröffnete, dass sie eine Auslandsreise für einige Wochen unternehmen werde, wich Technicus die Röte aus seinem Gesicht; es sei eine Reise für neue Inspiration; der Stadt-Alltag bedrücke sie allmählich; und schließlich sei das kein Abschied für die Ewigkeit.
Mit jeder Nacht nach ihrer Abreise verschlimmerten sich seine Albträume; sie waren ständig im gleichen Muster: er eröffnet sein Café, er trifft seinen Kommilitonen, er hängt ihr Bild hinter die Bar, und beginnt zu malen. Lange zu malen. Endlos lange zu malen. Und mit jedem weiteren Werk weinte er. Er weinte, dass er daran förmlich erstickte.
Er wusste, seine Zeit ist gekommen.
Bevor er nun eine weitere trostlose Nacht verbrachte, fasste er sich einen Entschluss. Er schrieb einen Brief, schloss sich in sein kaltes Zimmer ein, machte sein Bett, auf den er den Brief, eine Anweisung und ein paar Geldscheine legte, und stieg auf einen Stuhl, am Hals einen an der Decke befestigten Strick, in der rechten Hand einen Pinsel, in der linken Hand eine Malerpalette, vor ihm seine letzte Leinwand. Er warf den Stuhl um, seine Kehle schnürte sich zu, doch solange er noch Kraft hatte malte er sein letztes Werk. Er weinte dabei.
Die schöne Frau stand ungeduldig am Bahnhof. Eine Freundin holte sie ab; gemeinsam liefen sie zu der Wohnung der Schönen; während des Gesprächs vertieften sie sich in alle möglichen Erlebnisse, die seit ihrer Abreise passierten; sie zeigten sich auf ihren Mobiltelefonen Bilder; sie lachten den gesamten Weg lang. Sie öffneten die Haustür ihres Neubaublocks und liefen die Treppen hinauf; vor ihrer Wohnung lagen ein Brief und ein großes Paket. Die Freundin kicherte und sagte, dass sich ein Verehrer aber besondere Mühe gegeben hätte. Wenige geschickte Fingergriffe öffneten den Brief; auf einem weißen Blatt Papier stand geschrieben: „Das ist mein letztes Bild. Es ist dir gewidmet. Ich hoffe, es gefällt dir.“
Die sichtlich verblüffte Schöne packte das Gemälde aus; Sekunden verstrichen; sie begann zu weinen. „Was ist los?“, fragte die verdutzte Freundin. –
„Das Bild, es erinnert mich an meinen verstorbenen Ehemann.“