Die Gesellschaft scheint an einem Punkt angekommen zu sein, bei dem an vielen unterschiedlichen Bereichen eine Pervertierung von erstmals großartigen Fortschritten passiert. Die Welt wird immer komplexer, doch trotzdem wird immer noch an alte Muster festgehalten, da sie sich bewährt hatten. Und immer wieder wird orakelt, dass die Menschheit doch aus ihrer Geschichte lernen solle. Doch wer annimmt, dass die hehren Ideen aus der alten Zeit noch auf die heutige Zeit anwendbar sind, muss wohl selbst einem altertümlichen Lebensideal anhängen.
Ich glaube, dieses Jahr war ein besonderes, weil es ein Jahr ist, an dem ich mich aus dem intellektuellen Diskurs zurückgezogen habe. Nicht, dass ich irgendwas Publizierbares hervorgebracht habe, es ist eher so, dass viele Dinge ihre Relevanz für mich verloren haben. Und das, obwohl man ja annehmen könnte, dass das Ewige (Wahrheit, Ideen, Religion oder was weiß ich) doch immer Relevanz haben sollte. Doch gerade das Ewige, an dem sich Menschen so gerne festhalten, hat sich für mich dieses Jahr als Hochstapelei entpuppt. Das, was als das Ewige betitelt wird, ist doch eigentlich nur eine spontane Laune, irgendwelche Stabilität in der eigenen Gedankenwelt zu beschwören. Beständigkeit war nie vorgesehen. Was vorgesehen war, ist die ewige Veränderung und Mutation der Natur an die Umstände. Und wo keine ewigen Umstände sind, gibt es auch keine Konstante.
Eine Konstante, die bei mir in den letzten vier Jahren bestand, ist die Rückbesinnung auf die eigene Empfindung. Empfinden ist hierbei die Vorstufe des Denkens. Im Buddhismus wurde dies als Muße gelobt, der Empfindung den Vorrang zu geben, da das Denken danach trachtet, das Konkrete im Abstrakten zu verlieren. Im Flusse der Zeit hat sich eine gewisse Konvergenz herausgebildet, die wir heute Wissenschaftsbetrieb nennen. Und jedes Jahr kommen neue Begriffe hinzu, die neue Abstraktheiten fassen möchten. Doch die Frage ist ja, ob das wichtig für die individuelle Lebensführung. Meistens lautet die Antwort nein. Und wenn sie ja lautet, dann entweder aus kapitalistischem Interesse oder aus dem Bedürfnis nach geistiger Masturbation.
Das Empfinden ist jedoch nicht ganz so einfach. Das Positive am Denken ist, dass es die eigenen Empfindungen filtert, sie benennt und konzeptualisiert und schließlich, dass sie damit die komplexe Realität auf einen überschaubaren, wenn auch abstrakten, Begriffsschatz reduziert. Die Komplexitätsreduktion ist auch nötig, um zu leben und zu überleben. Es bringt ja nichts, alles ungefiltert aufzunehmen, wenn es keine Relevanz für die eigenen Ziele hat. Insbesondere wenn es sich um kollektive Ziele handelt, ist ja irgendeine Reduktion auf eine Kommunikationssprache notwendig, um überhaupt handlungsfähig zu sein.
In der feministischen Debatte ist eine Empfehlung entstanden, die ich die letzten Jahre sehr behutsam befolgt habe. Sich mit sich selbst auseinandersetzen, Gefühle artikulieren und zwischenmenschliche Beziehungen stärken. Durch bewusste Achtsamkeit und Aufmerksamkeit des Selbst sollen insbesondere männlich-sozialisierte Menschen mit ihrer Gefühlswelt auseinandersetzen und sie artikulieren lernen. Und ich denke, das hat bei mir die letzten Jahre auch gut funktioniert. Ich höre auch aus alten Freundeskreisen, dass es da ein gewachsenes Bewusstsein gibt und es vielen schwer fällt, ihre eigene Gefühlslage präzise zu beschreiben.
Man nimmt an, dass ein Körper in unterschiedlichen Gefühlszuständen andere Bedürfnisse hat. Wer wütend ist und sich dessen selbst nicht aktiv bewusst ist, lässt sich von seinen Gefühlen übermannen und geht in einen Rage-Modus über, in welchem auf Autopilot über alles mögliche geniert wird, und zu fragwürdigen Taten motiviert wird. Wer traurig ist, der benötigt Trost und einen Ruhepol zur Verarbeitung. Wer fröhlich ist, kann mit Tatendrang motiviert sein und zu unglaublichen Dingen beflügelt werden. Doch all dies muss erstmal ausgetestet werden. Denn welche Handlung der eigenen Person in welchem Gefühlszustand gut tut, kann nur durch Trial-And-Error herausgefunden werden.
Davon abgetrennt gibt es einen funktionellen Zustand, der sich den eigenen Gefühlen verschließt. Gefühle sind in diesem Modus unterdrückt, da sie keinen instrumentellen Nutzen haben. Ständig gibt es irgendwelche Anforderungen an das selbst, um die Selbsterhaltung und Lebensführung zu bewältigen. Es macht doch schließlich keinen Unterschied, ob man wütend, traurig oder fröhlich die Waschmaschine einräumt, wenn das einzig relevante die saubere Wäsche ist. Aber es wäre töricht anzunehmen, dass Gefühle keine Rolle spielen in der Handlungsauswahl. Insbesondere wenn man nicht weiß, was man denn überhaupt für ein Gefühl fühlt, beginnt man instinktiv zu handeln. Und da Menschen so eine komische Lebenswelt haben, die mit einer Hülle und Fülle von Bildschirmen überfüllt ist, sind ihre Instinkte meistens sehr schlecht ausgeprägt.
Der Nutzen der Gefühlsbeobachtung ist daher, dass man sein instinktives Handeln reflektiert und entsprechend evaluiert, ob das Handeln im gewussten Umfeld gerechtfertigt oder adäquat ist. Durch das Bewusstwerden des Unbewussten entsteht eine selbstverstärkende Schleife, in der das eigene Empfinden mit dem eigenen Denken in Deckung gebracht werden soll. Zumindest annäherungsweise, denn wie oben behauptet, geht das Denken über eine Empfindung mit einer abstrakten Reduktion der Empfindung ein.
Das Problem ist nun, dass wir feststellten, dass das Denken den Nutzen hat, zu filtern. Unwichtiges oder unkorrelierte Wahrnehmungen sollen außen vor bleiben. Doch wenn man fühlt, fühlt man nicht bloß „ein“ Gefühl, welches dann mit körperlichen Symptomen zusammenfällt, die irgendwie da sind. Wenn man rennt, dann hat man Herzklopfen, doch dadurch ist man nicht verliebt. Achtsamkeit über sich selbst kann durch „falsche“ Reflektion dadurch führen, dass die Aufmerksamkeit auch auf dasjenige gerichtet wird, was ja eigentlich gefiltert werden sollte. Die Pervertierung beginnt dann an dem Punkt, an dem das Unbewusste, welches in das Bewusstsein geholt wird, den Organismus überlastet. Das Achtsam-Sein führt dann zur Dysfunktionalität.
Die abschließende Frage, die hier gestellt wird, ist: Ab welchem Zeitpunkt führt gesteigerte Achtsamkeit über die eigenen Gefühle zu einer Umkehrung des Nutzens?
Das Denken selbst darüber scheint mir schon ein Zeichen dafür zu sein, dass ein Pervertierungsprozess bereits in Gang gesetzt wurde, in dem die Komplexität der Welt nur noch durch Reduktion des eigenen Horizonts und durch aktives Nichtbewusstsein verständlich gemacht werden kann. Und vielleicht liegt hier die Krux darin, dass Menschen beginnen, sich in Arbeit, Politik oder Drogen zu flüchten, weil irgendetwas in ihnen ausgelöst wurde, welches eine Blockade des Selbstschutzes und der Stagnation als alternativlos erscheinen lässt. Aber die Frage, so abstrakt sie gestellt ist, lässt nur eine konkrete, subjektive Antwort zu, die den Umständen adäquat ist. Schwierig.
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