Über individuelle Grenzen

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Ich widme diesem Beitrag einem sehr sensiblen Thema. Es ist eines, mit dem ich mich eher intuitiv und subtil beschäftigt habe. Es geht um persönliche Grenzen und wie diese gezogen werden. Ich möchte aber auch meinen Standpunkt kurz darlegen: Ich betrachte mich als ein Kind, welches die Welt aktiv erforscht. Ich bin deswegen auch ein Idiot. Kinder sind idiotisch. Sie verletzen sich gegenseitig und denken sich nicht groß etwas dabei. Kindern werden von ihren Eltern erzogen und nehmen diese Sicht als absolut war, bis sie auf neue Erfahrungen stoßen und sie erkennen, dass diese Sicht womöglich falsch war. Ich denke, dass mir diese Haltung sehr viel inneren Ärger erspart hat, weil ich wie ein Kind kein festes Selbst entwickelt habe. Das Selbst wird meiner Ansicht nach nicht durch Sprache definiert, sondern durch Handlung. Wenn ich sage, ich bin Musiker, dann speist sich diese „Identität“ nicht dadurch, dass ich so etwas behaupte, sondern, dass ich aktiv musiziere. Identität ist für mich daher nie etwas Festes, sondern immer darauf bezogen, was man tut, ohne es verbalisieren zu müssen. Das habe ich von meiner Mutter gelernt: Sie erzählt schon eine Menge Blödsinn, aber alles was sie tut, beispielsweise für einen zu kochen oder Sachen für einen zu nähen, die zeigen mir unmissverständlich auf, dass sie eine tolle Mutter ist.

Vorweg: Ich habe mit 13, 14 Jahren einige psychologische Bücher gelesen und daher kommt meine Neigung, extrem viel non-verbal zu kommunizieren. Bei meinen Eltern ist es auch so, sie sagen immer dieses oder jenes, und manchmal ergibt es für mich keinen Sinn. Aber ihre Handlungen und Ausdrücke, wie sie mich anschauen, sagen eigentlich alles aus. Wir sprechen in der Familie nicht besonders viel miteinander, aber ich denke, dass das meiste durch die Präsenz ausgesagt wird. Meine Mutter findet mich sehr merkwürdig, aber hat mich trotzdem lieb. Ich glaube, diese Art habe ich stark inkarniert. Wenn ich sage, dass ich Menschen „verstehe“, dann tue ich dies häufig auf einer non-verbalen Ebene. Menschen, die mir ungeschönt Dinge sagen, verstehe ich häufig nicht. Ich achte selten auf das „Was“, sondern mehr auf das „Wie“. Ich glaube, das liegt auch an der Erkenntnis, dass 90% der Kommunikation non-verbal passiert und manchmal vergesse ich, dass es auch noch die 10% gibt, die doch verbal passieren. Zumindest ist es so, dass ich solange ich das Gefühl habe, dass die non-verbale Kommunikation nicht passt, die 10% nicht annehmen kann. Wenn jemand beispielsweise wütend ist, dann ignoriere ich das meiste, was die Person sagt, sondern konzentriere mich auf ihre Emotionen und versuche an dieser zu navigieren, bis man wieder auf einer Ebene ist, in der verbale Kommunikation gut funktioniert. Schriftliche Kommunikation ist daher nicht mein Spezialgebiet, ich hasse WhatsApp. Es funktioniert für mich entweder auf einer rein formellen Ebene oder wenn für beide Seiten klar ist, dass es nicht so wichtig ist, was man schreibt. Alles dazwischen ist für mich diffus und verwirrt mich einfach nur. Das ist übrigens häufiger so, dass asiatische, lateinamerikanische oder afrikanische Kulturen stark auf diese non-verbale Kommunikation gerichtet ist, man bezeichnet diese kontextuelle Kommunikation auch als „high-context communication“ während das Gegenteil, also nur auf die verbale Kommunikation zu achten (sprich alles „wörtlich“ nehmen) als „low-context communication“. Deutsche sind bekannt für ihre „low-context communication“ (siehe z. B. hier).

Dadurch habe ich häufig Probleme mit Menschen zu kommunizieren. Mir ist es irgendwie gar nicht so stark explizit aufgefallen, sondern eher implizit. Wenn ich jemanden sehe und merke, dass die Körpersprache nicht zu dem passt, was die verbale Aussage ist, dann ist mein Eindruck, dass die Bedeutung irgendwo dazwischen liegt. In diesem Sinne meine ich auch, dass ich Menschen „sehr gut verstehe“. Es ist allerdings ein „Verstehen“, welches auf Konventionen und ungeschriebenen Regeln basiert, die ich mir bekannt sind. Andererseits ist es so, dass ich selbst sehr viel non-verbal kommuniziere. Viele Menschen bemerken das unbewusst (beispielsweise wenn man ruhig redet, wenig Reaktion zeigt, bewusst lächelt oder einem in die Augen schaut). Aber meine Erfahrung ist, dass sie es häufig nicht richtig deuten können, da sie selbst wenig mit Menschen zu tun haben. In der Erfurter Schulzeit-Bubble war es so, dass irgendwie „jeder jeden“ kennt und es mir deshalb so vorkam, als gebe es ein allgemeines Verständnis dieser non-verbalen Regeln. Ich kann dadurch sehr gut zwischen aufrichtigem und unaufrichtigem Verhalten unterscheiden, doch vielleicht ändert sich das alles ein wenig mit den neuen sozialen Spielregeln, die durch TikTok und Co erschaffen werden. Ich bin dahingehend noch sehr oldschool, was die Kommunikation betrifft. Es ist doch auch nervig, sich für alles erklären zu müssen; Bilder und Taten sagen doch mehr aus als 1000 Worte (und die Liebe, die man durch eine Tat zeigt, ist sogar unausdrückbar).

In den letzten Jahren ist vermehrt ein Phänomen aufgetaucht, welches sich der Kommunikation von Grenzen widmet. „Kenne deine Grenzen und kommuniziere sie“. So in etwa. Mir wurde gestern gesagt, dass ich da wirklich schlecht darin bin. Meine Auffassung ist, dass ich meine Grenzen sehr gut kenne, allerdings drücke ich sie nicht aus. Sie sind zudem fluide und nicht an Prinzipien gebunden, sondern situativ. Wenn ich mich unwohl fühle, merke ich das und gehe (das machen übrigens Pferde genauso). Und dann gibt es gar keinen Grund und auch keine Möglichkeit mehr, diese Grenze zu durchbrechen. Mir ist das erst jetzt bewusst geworden, dass ich das einfach auf eine natürliche Art und Weise mache, ohne dass ich explizit sagen muss „das ist meine Grenze“. Ich denke mir dann, dass Menschen eben eine andere Auffassung oder Wahrnehmung haben und komme manchmal später auf die Menschen zurück. Ich denke mir, dass sie vielleicht „komisch“ sind, aber ich unterstelle ihnen keine bösen Absichten. Es ist mir nicht wichtig, dass die Interaktion klar kommuniziert wird, sondern dass es vage bleibt. In (süd-)ostasiatischen Kulturen ist das häufig so, dass es keine Klarheit gibt. Vielleicht hängt das auch mit der meditativen Praxis zusammen: Worte sind einfach irgendwelche Gespinster, die im Kopf umherirren und die man beobachten kann. Egal, was im Kopf passiert, egal was man ausdeklariert, es ändert nichts an der Welt. Es würde nur etwas an der Welt ändern, wenn diese Gespinster in Taten übersetzt werden würden. Und dann denke ich mir, egal, was Menschen tun, irgendwelche Gespinster haben sie dazu veranlasst, oder auch „Es gibt Gründe“.

In der Gesellschaft hat es sich aber vermehrt breit gemacht, dass Menschen non-verbale Signale gar nicht mehr deuten. In der low-context Kommunikation, die durch die sozialen Medien noch mehr verstärkt wird, konzentrieren sich Menschen nur auf das Einzelne, statt Bedeutungen im Kontext zu sehen. Es gibt einige wenige Ausnahmen, beispielsweise das Wort „Hallo“, welches man durch „Hallo???“, „Aber hallo!“ oder „hallooo“ unterschiedlich ausdrücken kann. So eine Art zu sprechen ist „high-context“. Und in Deutschland gibt es eher wenige Arten, dieses auszudrücken (eine weiteres lustiges Wort ist „hmm“). Vielleicht sind deswegen viele Menschen von mir überfordert, da ich annehme, dass sie meinen Kommunikationsstil intuitiv verstehen. Schließlich mache ich es ihnen gegenüber genauso, wenn die Stimme leiser wird bei einem Gespräch oder sie sich umschauen dabei, dann deutet es für mich darauf hin „das Thema ist mir unangenehm, lass uns das Thema bitte wechseln“.

Das ist die Art etwas mitzuteilen ohne explizit zu sagen: „Du, ich höre dir zu. Ich könnte etwas dazu sagen, aber ich glaube, ich möchte nicht. Das hat nichts mit dir, sondern mit mir zu tun. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht und habe keine Meinung dazu, deswegen lass uns über etwas anderes sprechen.“ Ich glaube, ich könnte so etwas einfach sagen. Aber die meisten Menschen möchten ja nicht zugeben, dass sie über irgendwas noch nicht nachgedacht haben, weil das gleichzeitig in der Norm so etwas bedeutet wie „Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Aber es klingt so, als ob es wichtig wäre. Ich scheine in diesem Thema unreflektiert zu sein und müsste mich da selbst hinterfragen.“ Stattdessen fasse ich es, im Gegensatz zum deutschen Perfektionismus, so auf: „Ich habe keine Ahnung über dieses Thema und ich freue mich darauf, etwas darüber zu lernen.“ und dies wird bei mir so kommuniziert, indem ich jemanden in die Augen schaue, meine Stimme fragend stelle (so wie ein kleines Kind, welches mit großen Augen ein Geschenk aufmacht und aufgeregt fragt: „Was ist das? Was ist das? Was ist das?“) und mich dann zurücknehme, um Raum zu geben. Diese Taten kommunizieren zusammen genommen „Ich höre dir zu“ und stattdessen möchten Deutsche gerne einfach nur hören „Ich höre dir zu“.

In der Menschengeschichte sind diese Mechanismen sehr stark verankert. Es zeigt dem Gegenüber, dass man ein Verständnis für soziale Normen hat und sich diesen anpassen kann. In unterschiedlichen sozialen Milieus gibt es unterschiedliche Arten, miteinander zu reden und je nachdem, ob man die gleiche Praxis hat, weiß man „dieser Typ gehört zu meiner Stammesgruppe“. Ich bin jemand, der in vielen verschiedenen Gruppen unterwegs war und mich stark an die Redepraxis anpassen kann. In linken Kontexten achte ich z. B. auch darauf, zu gendern und mich präziser auszudrücken. Aber in meinem Alltag ist mir das meistens egal. Vielleicht ist da auch eine Diskrepanz zwischen „der akademischen Linken“ und dem „proletarischen Arbeitervolk“: Sie distanzieren sich dadurch, dass sie unterschiedlich kommunizieren, um Gruppenzugehörigkeit auszudrücken und sich gegenseitig auszuselektieren. Mir ist diese Gruppenzugehörigkeit total egal, da ich Stabilität nicht aus sozialer Bestätigung ziehe, sondern aus meinem eigenen Schaffen. Ist doch egal, ob man diese oder jene Freunde hat, das macht einen nicht aus. Das, was einen ausmacht, ist, welche Veränderung man in der Welt bewirkt (zumindest ist das mein Anspruch). Es ist dabei egal, welcher Gruppe man zugehörig ist, es ist egal, ob andere denken, dass das, was man tut toll ist. Nur man selbst ist sich selbst Rechenschaft schuldig, nämlich wenn man angesichts des Todes sagen kann „Ich habe ein gutes Leben geführt“, was auch immer „gut“ für einen individuell bedeutet.

Dieses Stammesdenken, welches ursprünglich über „ungeschriebene“ Regeln geschah, scheint heutzutage sich immer mehr dahinzuwandeln, dass Menschen das Bedürfnis haben, diese Regeln klar auszuschreiben. Je pluralistischer die Welt wird, desto mehr haben Menschen das Bedürfnis, in diesem Chaos nach Stabilität zu suchen. Sie halten sich an Prinzipien, die ihnen ein klares Entscheidungskriterium zwischen Gut und Böse gibt. Vielleicht habe ich einen zu großen Nietzsche Einfluss gehabt, da dieser jegliche Prinzipien verneint. Wenn Nietzsche schrieb „Gott ist tot“, dann ist Gott nicht bloß ein Ausdruck der Religion, sondern auch ein Ausdruck der absoluten Moral, welche in ihm verkörpert ist. Die christlichen Menschen brauchen nicht vollständig selbstständig zu denken, da sie der „göttlichen Moral“ folgen. Sie haben ihre 10 Gebote und orientieren sich an ihnen. Sie haben die Geschichten aus der Bibel, die verbildlichen, wie Jesus handelte. All das gibt es stabiles Weltbild, in dem die Weltgeschichte als eine Historie dargestellt wird, in dem der Mensch näher zu Gott kommt. Und ich bin vermutlich so ein Ketzer, der meint, dass die Bibel auch nur ein Geschichtenbuch ist, welches aber sehr nützlich ist, weil es uns zeigt, wie wir Grausamkeit verringern können. Ich glaube nicht an Gott, aber an die Nützlichkeit der 10 Gebote, um eine gerechtere Welt zu schaffen.

In der individualisierten Gesellschaft, in der Gott gestorben ist, fehlt nun ein absoluter moralischer Standpunkt. Wenn wir nicht mehr die moralischen Regeln haben, dann stellen wir eben unsere eigenen Regeln auf oder übernehmen die Regeln von unseren Mitmenschen oder Eltern, die uns anerzogen werden. Und manchmal (so wie ich) verwerfen wir sie, indem wir sie logisch auseinander nehmen und auf ihre Widersprüche hinweisen. Aber das bedeutet gleichzeitig auch: Wenn ich deine Regeln hinterfrage, dann ist das auch ein impliziter Angriff. Ich glaube, ich greife Menschen implizit häufig an. Es ist aber nicht so, dass ich es aus Respektlosigkeit tue. Es ist eben wie ein Kind, welches ein Geschenk sieht und sich fragt: „Was ist das?“. Das liegt mitunter eben daran, dass ich selber zwar Grenzen habe, die verschieben sich für mich aber immer je nach Situation. Mir ist es doch egal, dass man „sowas nicht macht“ (z. B. nicht kippelt, oder auf dem Boden von der Bibliothek zu schlafen), da es doch keine negativen Konsequenzen gibt. Der Sub-Kontext, der aber vermittelt wird ist, „ich ignoriere die ungeschriebenen Regeln, weil ich sie nicht anerkenne; sehr mich an, ich bin ein Rebell und tue und lasse, was ich möchte“. Und vielleicht ist das auch ein bisschen so. Kinder knabbern auch alles und jedes an, bis man ihnen sagt, dass es schlecht ist. Allerdings gibt es auch gute Gründe dafür.

Viele Menschen sind prinzipien- statt konsequenzorientiert. Anders könnte man aber auch sagen: Sie können nicht einschätzen, was die Konsequenzen ihrer non-verbalen Kommunikation sind. Es muss ihnen explizit gesagt werden, „egal, was du tust, ich habe dich trotzdem lieb“. Wir streiten in der Familie ab und an, aber meine Eltern haben mir früher nie gesagt, dass sie mich liebhaben. Sie haben aber Dinge getan, die dafür sprechen und das hat mir bereits ausgereicht. Ich habe gelernt, die Dinge so zu nehmen, was Menschen für mich tun, statt das was sie zu mir sagen. Worte sind wandelbar, haben keine feste Definition (beispielsweise das Wort „Aura“ ist in der TikTok-Kultur ja ganz anders konnotiert als bei Walter Benjamin oder noch früher vor dem 20. Jahrhundert). Aber viele westlich geprägt Menschen sind nicht dazu in der Lage, unklare Formulierungen auszuhalten. Und manchmal sind diese Formulierungen auch gar nicht unklar, weil der nötige Subkontext mitgeliefert wurde, der aber nicht interpretierbar für sie ist. Aus diesem Grund müssen Menschen ihre Grenzen explizit kommunizieren, weil viele von ihnen unfähig dazu sind, die Grenzen durch non-verbale Kommunikation oder durch einfache Handlungen („ich gehe weg“) auszudrücken. Das Sich-Entziehen fällt vielen Leuten wohl schwer, weil es offene Botschaften vermittelt. Die gängige Interpretation ist vielleicht zweierlei: Zum einen heißt es „Ich gehöre hier nicht dazu“ und andererseits „Du gehörst nicht zu mir“. Aber oftmals heißt es bei mir dann einfach „mich langweilt das Gespräch, weil es gerade um das Thema XYZ geht und habe Dinge zu erledigen, aber vielleicht finden wir beim nächsten Mal ein interessanteres Thema für mich. Unterhaltet euch aber gerne weiter, ich habe euch trotzdem lieb“.

Ich glaube, dass Menschen heutzutage dazu neigen, diese vage non-verbale Kommunikation tendentiell negativ zu deuten (vor allem verursacht durch die Art und Weise wie Politiker kommunizieren [sie tun es unglaublich schlecht] und durch soziale Medien). Ich sage zwar immer, dass ich eher weniger schlechte Erfahrungen mache, aber das tue ich, weil ich denke, dass die meisten Menschen eine positive Absicht verfolgen. Wenn sie etwas tun, was „vage“ ist, dann versuche ich es bestmöglichst zu interpretieren. Ich interpretiere es so, dass sie etwas Gutes für mich wollen, unabhängig davon, ob es wirklich so ist. Ich merke seltener mal auch, dass mir Menschen aktiv etwas Schlechtes wollen, aber selbst das sehe ich positiv, da ich das als Lernerfahrung nutze. Ich habe es gestern so ausgedrückt: Egal wie schlecht ein Mensch ist, er zeigt womöglich trotzdem positive Verhaltenszüge, auch wenn diese im Vergleich zu seiner Schlechtheit eher gering sind. Ich konzentriere mich trotzdem auf die positiven Sachen, weil ich mir bewusst bin, dass die schlechten Seiten durch Sozialisation oder Traumata hervorgebracht wurden. Sich auf die guten Seiten zu konzentrieren bedeutet daher auch, dass man diese aktiv im Umgang miteinander fördert.

Ich rede schon die ganze Zeit um das Thema Grenzen vorbei, aber ich möchte aufzeigen, wie viel Psychologie und Stammesgeschichte da mit reinspielt. In deutschen Ausdrücken ist das Thema sehr schnell gegessen: „Ich sage, das ist meine Grenze und wenn du die überschreitest, dann bist du mein Feind“. Und dieses Freund-Feind-Schema hat eine Historie, die mit der Entwicklung des (post-)modernen Menschens zusammenhängt (insbesondere durch diesen komischen Intellektuellen Carl Schmitt und die Nazi-Sozialismus-Trennung). Aus der Sicht von rechten Menschen sind die Linken alles Sozialisten und aus der Sicht von den Linken sind die rechten Menschen alles Nazis. Und beide denken, dass in der Mitte sich diejenigen positionieren, die zu unreflektiert sind, sich eine Meinung zu bilden. So entstehen einfache Schwarz-Weiß-Geschichten, die einfach zu begreifen sind, die sich auch darin auswirken, wenn man seine individuellen Grenzen zieht.

Die individuellen Grenzen haben mit der aufkommenden Sensibilisierung aber auch eine identitätsstiftende Funktion, in der sich Menschen selbstbeschreiben wollen und müssen. Wer keine Identität hat (z. B. ich), ist ein Problem für die Gesellschaft, weil diese Person nicht zuzuordnen ist. Und wenn diese Person weder Freund, noch Feind ist, sondern einfach neutral, dann weiß man nicht, wie man damit umzugehen hat. Mir ist diese Freund-Feind-Aufteilung und Gut-Böse-Aufteilung total egal. Das hilft überhaupt nicht, aufeinanderzuzugehen, wenn wir in unserer Gesellschaft unsere Feinde ständig nur diffamieren. Aber ich kann verstehen, dass Menschen einen großen Halt darin sehen, wenn sie sich über ihre Identität definieren. Dann kann man sagen, das, was ich morgen tue, steht nicht im Widerspruch zu dem, was ich gestern gemacht habe. Das würde eine unglaubliche Dissonanz auslösen, die in einem Unwohlsein endet. Dann müsste man sich eingestehen, dass man gestern kompletten Bullshit gedacht hat. Ich denke ja häufig, dass ich kompletten Bullshit ab und an gedacht habe. Ich finde es aber amüsant. Was gestern war, war gestern, was heute ist, ist heute. Da würden einige sagen, dass ich mein Rückgrat verbiege oder was man auch sonst meinen mag. Ich glaube, dass es sinnvoller ist, sich von dieser Idee zu verabschieden, dass Identität irgendetwas bringt außer Beruhigung. Und wenn man Beruhigung braucht, dann reicht es doch auch aus, anzuerkennen, dass die Welt im ständigen Wandel ist, oder nicht?

Dieser Wandel funktioniert auch nach gewissen Regeln. In der Geschichte haben wir festgestellt, dass dieser Wandel in der Sprache auch immer ein Wandel in der Kultur war. Beispielsweise brachte Galileo die Beschreibung des heliozentrischen Weltbildes ein, in dem wir uns davon verabschiedeten, dass die Erde der Mittelpunkt des Kosmos ist. Freud sprach von den drei Kränkungen, die das ehemalige Menschenbild als Abbild Gottes erschüttert haben: (1) eben jene kosmologische Kränkung, (2) die darwinsche Kränkung, dass der Mensch keine Schöpfung ist, sondern vom Affen abstammt, und (3) die psychologische Kränkung, dass wir dächten, wir seien „der Herr in unserem Haus“. All diese Kränkungen sind tief in der Kulturgeschichte verankert, die uns auch heute noch beeinflussen. Menschen sind eben nicht irgendwas Besonderes, sondern nur ein unwichtiger Teil einer unendlichen Geschichte des Weltalls. Alles, was außerhalb von uns stattfindet, interessiert die Sonne nicht (und da gibt es einige Forscher, die selbst die Sonne herausfordern wollen, weil sie sich mit der Kleinheit des Menschen nicht abfinden können). Und diese Erkenntnis veranlasst Menschen dazu, Stabilität und Bedeutung in ihrer Identität zu finden, die sie mit ihren Grenzen gegen alle Eindringlinge verteidigen. Wer die eigene Identität stärkt, ist ein Freund, und wer sie angreift, ist ein Feind.

Ich merke mittlerweile auf jeden Fall, warum mich Menschen mögen und warum mich andere Menschen nicht mögen. Ich treffe gar nicht so häufig auf Menschen, die mich nicht mögen, weil ich bereits unbewusst durch meine Handlungen Menschen aussortiere, ohne dass man das explizit sagen muss. Aber häufig mögen mich die meisten, wenn auch nur auf eine oberflächliche Art und Weise, weil ich gerade etwas Interessantes beizutragen habe, ohne dass man es in einem riesigen Gesamtkontext beleuchtet. Und manchmal gibt es Menschen, die man mag, die aber unfähig sind, mir ihre Grenzen non-verbal mitzuteilen. Das ist dann auch einfach ein Fehler meinerseits, da ich akzeptieren muss, dass es Menschen gibt, die eine solche non-verbale Sprache nicht sprechen. Ich bin in meinem Leben auf eher weniger Menschen getroffen, die nur durch eine verbale Interaktion mit mir interagieren. Das liegt aber auch an meinen Hobbies: Wenn man musiziert, zeichnet, schreibt, Schach spielt, skatet oder auch Drogen konsumiert, dann gibt es ja bereits einen Rahmen, in dem jeder weiß, was der Subkontext ist. Da weiß man doch sofort, auf was man sich einzustellen hat, weil die Leute dort bereits die sozialen Konventionen kennen.

In einem neutralen Setting hingegen fehlt dies vollständig. In so einem Kontext ist alles möglich und das beängstigt Leute. Mich beängstigt es teilweise auch noch ein wenig. Ich setze mich dem aber bewusst aus (weil es eine „Überraschung“ verspricht, die Unsicherheit ist für mich eben „ein Geschenk“, was neue Erfahrungen enthält). Vielleicht kommt daher auch der Eindruck, dass ich häufig Grenzen überschreite. Es liegt nicht daran, dass ich was Böses im Sinne habe. Ich weiß es einfach nicht besser. Und Leute glauben, nur weil ich Philosophie studiert habe, dass ich für jeden Scheiß irgendeine Antwort habe. Es ist komplexer. Es gibt eben keine falschen Antworten, es gibt nur falsche Fragen.

Ich werde es in Zukunft also eher so halten. Wenn sich Menschen unwohl fühlen, sollte ich aktiv sagen: „Ich bin ein Mensch, der sehr viel non-verbal kommuniziert. XYZ an deinem Verhalten lese ich so, dass du dich unwohl fühlst. Gibt es etwas, was ich ändern kann? Was sind deine individuellen Grenzen?“ anstatt in meinem Default-Mode vorzugehen, den ich sonst immer fahre. Ich muss dann aber auch ein Gespür dafür entwickeln, Menschen zu filtern, die stark verbal-orientiert sind. Das ist nicht so einfach, wenn man wie ich manchmal gar nicht zu hört, was gesagt wird, sondern nur wie etwas gesagt wird. Vielleicht kann man dann etwas Grausamkeit vorbeugen.

Und noch ein Punkt: Grausamkeit kann man nur durch Geschichten lernen. Entweder man liest solche Geschichten, hört sie von anderen oder erlebt sie selbst. Sie müssen gut geschrieben sein, damit man die Grausamkeit wirklich versteht. Ich habe manche Dinge erst jetzt verstanden, weil es einen konkreten Anlass gab. Wenn Menschen ihre Grenzen ziehen, man sie überschreitet und dann sagt die andere Person, dass man komplett böse ist und einem nicht deutlich macht, wie wichtig es ist, dann verstehe ich es nicht. Ich verstehe es nicht, dass Menschen ihre Grenzen wichtig sind, weil ich selbst solche Prinzipien und starren Grenzen um meine „Identität“ nicht habe. Ich glaube, es verbaut mir mehr als das es mir hilft. Eine Grenze ist ja immer zweiseitig, sie grenzt von außen ab, doch man grenzt sich selbst auch zum Äußeren ab. Wenn man mir eine Gruppenzugehörigkeit zu sprechen würde, dann gibt es nur eine: Die ganze Menschheit, in der wir alle leidfähige Menschen sind, das es zu lindern gilt (das ist ein sehr humanistisch-geprägter Gedanke). Die Bösen sind maximal eine alienartige Rasse, die uns auslöschen will, aber abseits von dem existiert für mich nur die Kategorie Freund ohne Feind.


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