Wendezeit

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Ich sitze gerade alleine an einem kleinen Badestrand in Flechtingen und es freut mich, dass ich jetzt einfach ruhig sitzen kann und um mich herum eine friedliche Ruhe herrscht. In letzter Zeit fange ich wieder oft an, groß und weit zu denken und wenn man die heutigen Krisen alle so bedenkt, dann ist man es gar nicht gewohnt, wenn es einfach ruhig ist. Es ist fast so, dass man aus Gewohnheit wieder eine Krise erfindet, einfach weil es ohne sonst ja gar nicht geht.

Ich hatte vor diesem Text noch einen Entwurf angefangen, der „Über das Erwachsenwerden“ hieß. Ich wollte mich da auf einen kleinen Essay von Alain de Botton über das durchschnittliche Leben beziehen. Im Groben war die Aussage, dass dasjenige, was man mit „gewöhnlichem“ oder „durchschnittlichen“ Leben bezeichnet, stark durch die eigene Kinder- und Jugenderfahrung geprägt ist. Und mal ist es hier so, mal da so und in Erfurt fand ich ’nen durchschnittliches Leben einfach geil. Und ich würde rückblickend sagen, dass das auch deswegen so war, weil das in Erfurt damit verbunden wird, in Museen zu gehen, mit Freunden sich in Cafés treffen oder eine der Stammlokale (Speicher, Retronom, Hilge, Nerly) besuchen, weil da immer nette Menschen sind. Und sonst kann man ja auch vieles machen.

Seit dem ich nach Magdeburg gezogen ist, habe ich gemerkt, dass ich wirklich sehr behütet aufgezogen wurde. Und das nicht durch meine Eltern, die haben mich eigentlich so ziemlich alles durchgehen lassen. Aber ich verbrachte viel Zeit in der Schule und in den öffentlichen Parks. Ich arbeite gerade im ländlichen Raum (2.800 Einwohner) und ich merke auf jeden Fall die Zwiespältigkeit, die damit einhergeht.

Zum einen habe ich ein Freiheitsgefühl. Man sieht so viel Weite und generell gibt es hier einfach viel Platz. Wenn Janni mich mit dem Auto mitnimmt, finde ich es so schön die Landschaften und alten Gemeinden zu sehen. Es ist natürlich auch ein bitterer Beigeschmack dabei, da man weiß, dass sich einfach nicht drum gekümmert werden kann, aber ich liebe die historische Verbundenheit, die damit einhergeht. (Die Stadt und das Internet sind ständig im Wandel und sagen einem ständig, schau hier hin, schau da hin. Berlin ist das krasseste Beispiel, dort fühle ich mich immer so, als würde die Zeit rennen.) Und wenn wir irgendwo hinfahren (man muss leider nen Führerschein haben, ich muss auch noch einen machen, uff), dann kennt man immer irgendwen (fast wie zu meiner Schulzeit), allerdings halt auch einfach viele Leute aus einer anderen Generation. Doch man muss sich halt auch nicht sorgen, dass was passiert oder hier irgendwas geklaut wird. Mit einem Rentner namens Eberhard (Baujahr 45) kann ich mich besonders gut unterhalten. Er wird nächstes Jahr 80 und seine größten Jahre sind schon vorbei, aber er kann mit so viel Bedeutungsgehalt erzählen, dass ich wieder angefangen habe mich mit intensiv mit der Geschichte auseinanderzusetzen (insbesondere die von Mitteldeutschland). Und auf dem Land hat hier irgendwie jeder ein Grundstück und ein Haus, das er bewirten muss. Mein Chef hat einfach so viel zu tun, weil es einfach so viel Fläche und Besitz gibt, um das er sich kümmern muss. Und bei den meisten anderen ist es auch so, und dann wird (spätestens) abends angefangen zu trinken.

Ich merke aber auch die Schattenseiten. Es gibt hier kaum gut bezahlte Jobs und natürlich gibt es auch nur begrenzt Events. Man merkt auch, dass viele Menschen sich einfach an die Ruhe gewöhnt haben, aber ich glaube, dass das sehr vernünftig ist (das sind sehr pragmatische und hilfsbereite Menschen). Aber gerade das erlaubt es vielen nicht, „krass anders“ zu sein. Hier ist nicht das verrückte Leben (bzw. es ist anders verrückt, was die Menschen hier so treiben, insbesondere mit Alkohol und Motorrädern). Und es ist alles einfach sehr männlich geprägt. Ich finde das an sich nicht schlimm (weil ich ja ein Kerl bin), aber es ist auch einfach schwierig. Viel Platz, wenige Menschen, die sich darum kümmern, und dann sind es häufig Berufe in der Industrie, im Einzelhandel, im Handwerk oder in der Landwirtschaft. Janni und auch paar andere haben gemeint, dass es in Flechtingen eigentlich nur minderjährige Mädchen oder Frauen Ü40 gibt, weil alle nach der Schule woanders zum Arbeiten hinzuziehen. Die Region ist vor allem wirtschaftlich geprägt von der Reha-Klinik, dem Steinbruch und der Landwirtschaft, weshalb die meisten Frauen zum Studieren in Städte oder in den Westen ziehen. Hier gibt es halt eher typische Männerberufe und da das Familienbild auch eher traditioneller ist als ich es aus Erfurt kenne (und Erfurt ist ja auch schon ziemlich bürgerlich), ist es zwangsläufig so, dass nur Männer in der Region bleiben und „den Laden zusammen halten“. Ich komme später noch einmal darauf zurück.


In letzter Zeit arbeite ich sehr viel. Ich habe ein paar Investitionen in Businesses getätigt und ich glaube, ich habe gerade eine 50h-Arbeitswoche. Ich weiß gar nicht mehr, wann mein letzter freier Tag war, aber es war glaube ich so vor zwei Wochen. Ich habe mich aber mittlerweile dazu entschlossen. Ich war im letzten Sommer in einer schönen Beziehung und meine Ex hatte mit mir dann im November Schluss gemacht. Es war eine Trennung (und Beziehung) ohne Streit. Ich musste mir zuletzt auch eingestehen, dass ich es einfach vergeigt hatte. Es war aber auch einfach der Sache geschuldet, dass unsere Vorstellungen vielleicht nicht optimal gepasst haben (und vielleicht hätten wir doch auch ab und an mal streiten sollen). Ich war danach noch in einer Rebound-Situationship und habe jemanden ziemlich mies verletzt deswegen. Wie Rilke schon sagte, werfen sich die jungen Schüler des Lebens sich mal hier hin, mal da hin. Man weiß es einfach nicht besser. Ich hatte dann also beschlossen, es erstmal mit Beziehungen zu lassen und mich wieder auf meine Fähigkeiten und meine Arbeit zu konzentrieren.

Insofern kommt mir die Situation hier sehr gelegen und ich komme auch einfach gut zurecht. Aber gleichzeitig ist es auch ein wenig unheimlich. Menschen verändern sich, wenn sie in neue Situationen und Realitäten geworfen werden. Man passt sich an, man lernt dazu. Gleichzeitig muss man innehalten, damit man sich selbst nicht vergisst. Ich habe mich die letzten Tage nicht sonderlich gut gefühlt, meine Tage waren vollgefüllt. So Momente, in denen man Dinge, die einen beschäftigen einfach aufschreibt, sind doch eher selten. Aber sie helfen ungemein, sich selbst wieder zu orientieren. Und nun bin ich in einigen Männerbünden unterwegs und kümmere mich vor allem um mein Einkommen (denn das ist etwas, was linke Aktivisten häufig vergessen, in einer kapitalistischen Welt braucht man trotzdem eine Menge Geld, um etwas zu bewegen). Vor nicht allzu langer Zeit war es auch schon anders gewesen, da habe ich teilweise fast nur mit Frauen Zeit verbracht. Und es erstaunt mich, wie da die Welt ja doch ganz anders aussieht (aber das war auch in Erfurt/Magdeburg und nicht aufm Dorf).


Ich finde es nun auch wichtig, dass man diese Erfahrungen mit dem Politischen verbindet. Vor allem da die Wahl in Thüringen bald ansteht. Ich hatte mir das Welt-TV-Duell von Mario Voigt gegen Björn Höcke angesehen und auch das Höcke-Interview mit der Weltwoche (einem größeren schweizerischen Nachrichtensender) sowie die Videos zu Ostdeutschland vom dunklen Parabelritter angeschaut. Ich verfolge seit der Parteigründung auch das BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht).

Ich merke, dass diese Wahl bereits die bundesdeutsche Spaltung anzeigt. Die stärksten Parteien sind neben der CDU die AfD, die Linke und BSW, Parteien, die in Deutschland keine Altparteien sind. Grüne und FDP fliegen vermutlich aus dem Landtag raus und die SPD ist im Prinzip eine westliche Kopie von der ostdeutschen Linken (mein Eindruck war, dass es schon recht wenig Unterschiede zwischen der SPD und Linken in Erfurt gab). Und das liegt daran, dass diese Alternativen deutlich stark von den strukturellen Unterschieden in Mitteldeutschland im Vergleich zum Westen geprägt sind [d. h. a) niedriger Ausländeranteil, der vor 2015 bei ca. 5% lag, b) Männerüberschuss von bis zu 30% vor allem bei jungen Männern, c) ländlich geprägte Wirtschaft und Gesellschaft, d) relative hohe Arbeitslosigkeit].

Die AfD ist basically der ostdeutsche, anti-intellektuelle, kleine „Mann“ (literally Mann) während die Linke halt vor allem von kapitalistismuskritischen, sozial-ausgerichteten Frauen gewählt wird. Ich weiß nicht, es macht mich irgendwie traurig, dass hier so krasse Gegensätze und Clientels aufeinander treffen, ohne eine gemeinsame Lösung finden zu können. Ich hatte es oben schon angedeutet, dass auf dem ländlichen Raum eine sehr männlich geprägte Realität herrscht. Doch ich sehe kaum eine „Verweiblichung“ des ländlichen Raums weder in demographischer Hinsicht, noch in den strukturellen Bedingungen. Und Erfurt war in meiner Schulzeit eher „weiblich“ geprägt (viel Soziales und Kulturelles und weniger Industrie), zumindest war das so mein Eindruck. Und nun skandalisiert „Deutschland“ über die ostdeutschen Verhältnisse. „Deutschland“ meint hier mit vor allem eine städtische (77,5% von Deutschland), westdeutsche (> 80%) und zudem altparteienpolitische (~ 70%) geneigte Bevölkerung.

Nach 34 Jahren deutscher Wiedervereinigung haben sich (leider) die strukturellen Unterschiede nur noch vergrößert. Die Wirtschaft wurde zerschlagen, viele Grundstücke wurden an Westdeutsche verkauft, die Arbeitslosigkeit stieg an und die Frauen zogen aus dem ländlichen Raum weg. Corona hat die großen Differenzen aufgedeckt: Die ganzen Maßnahmen, die vor allem in Großstädten wie Berlin, Hamburg, Köln, etc. von größter Wichtigkeit waren, haben in Regionen, die viel weniger Verkehr haben, in denen die Menschen sowieso nur unter sich sind (es gibt nicht die Anonymität, die man eher in Städten kennt) ihre Wirkung total verfehlt und stattdessen viele der wichtigen Betriebe auf dem Land lahmgelegt.

Das Versprechen „Gleiches Land, gleiche Verhältnisse“ ist nicht nur gebrochen worden, es war nicht mal ein wünschenswerter Vorschlag. Mitteldeutschland hat eine andere Kultur mit anderen Erfahrungen. Ich erinnere mich an einen Artikel einer britischen Historikerin, die formuliert hatte, dass ostdeutsche durch die Wendeerfahrung ein viel differenzierteres Bild von Demokratie vorherrscht, da diese in ihrer Geschichte drei verschiedene Systeme mit ihren Vorteilen und Nachteilen lebten. Westdeutschland, welches bereits über 40 Jahre länger in ihrer „Demokratie“ lebt, hat keine Anstrengungen gemacht, die ostdeutschen Erfahrungen in ihrer Geschichte zu integrieren, genauso wenig, wie sie es geschafft hat, ein gesundes Geschichtsverhältnis zum Nationalsozialismus zu schaffen.

Ich habe das Gefühl, dass Mitteldeutschland noch Parallelen zur Kleinstaaterei vor Bismarck aufweist. Die meisten der kleinen Staaten waren vor allem in Thüringen gewesen. Die Familien der Bevölkerung hier, hat so gut wie in der jeder zweiten Generation in einem anderen Land gelebt. Ich glaube, dass dies tief im kollektiven Bewusstsein verankert ist, dass ständig wieder eine Obrigkeit über das Leben der Menschen bestimmen wollen, die hier leben. Und das ist ziemlich schwierig und ich bezweifle, dass die wenigsten Menschen in Deutschland diese Zusammenhänge wissen. Man darf auch nicht vergessen, dass 96,5% der deutschen „Muslime mit Migrationshintergrund aus muslimischen geprägten Herkunftsländern“ in Westdeutschland leben und nur 3,5% in Ostdeutschland. Kein Wunder, dass sowohl die Westdeutschen das Argument der „Islamisierung“ nicht verstehen und dass die die Integration in der Mehrheit scheitert und die Westdeutschen nicht verstehen, dass es in Ostdeutschland kein Multikulti herrscht bzw. wenn man da von Multikulti spricht, ist dieser geprägt vor allem von sowjetischen und vietnamesischen Einwanderern und ihren Kindern.

Deutschlands politisches System hat versagt. Es schafft es nicht, regional-differenzierte Gesetzesregelungen zu schaffen und die ostdeutschen Erfahrungen in ihre Geschichte zu integrieren. Es hat die Kluft zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung nicht unter Kontrolle und hat durch seine Technologiefeindlichkeit und Bürokratie keine Lösungsvorschläge.

Deshalb liebe Leserinnen und Leser (wenn es denn welche gibt). Du hast es bis hierher geschafft. Wenn du etwas gelernt hast und dich der Artikel zum Nachdenken angeregt hat, dann teile doch gerne einen der Gedanken mit einem westdeutschen (bzw. städtischen/ländlichen) Freund oder Freundin und unterhaltet euch über eure unterschiedlichen Lebenserfahrungen und wie diese eure politische Sicht prägen. Vielleicht kann dieser Text zu einer Annäherung von West und Ost beitragen. Ich wünsche mir ein geeintes Deutschland. Die wirkliche Wendezeit war noch gar nicht, sie muss noch kommen.


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