Der andere Vibe von Großstadtmärchen

Lesedauer: ca. 5 Minuten

Ich fand ehrlich gesagt den Titel ganz cool, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, wo das hinführen wird. Mir ist vor kurzem nochmal aufgefallen, wie stark mich Märchen geprägt haben. Meine Eltern haben zu Hause einen Haufen an Krimskrams und Büchern und da sich die Wohnung meiner Eltern immer nur minimal verändert, stöber ich da immer wieder rum. Und obwohl die Sachen ja immer die gleichen sind, sind sie doch immer wieder anders, weil ich meine Eltern nur alle paar Monate besuche und in der Zeit wieder neue Einblicke bekomme oder neue Erfahrungen mache.

Diesmal stieß ich auf einige vietnamesische Märchen und fing an ein wenig in den alten Geschichten zu stöbern. Auch früher habe ich viele Märchen und Fabeln mitbekommen. Als ich noch in der Grundschule war, war der Bibliotheksbesuch für mich immer ein besonderes Ereignis. Wir sind mit meiner Mutter immer mit dem Auto zur übernächsten Bibliothek gefahren. Sie war zwar etwas weiter weg, aber dafür gab es eine größere Auswahl, da das der Hauptbibliothekszweig des Bezirks war. Und ich kam eigentlich nie nach Hause ohne paar Hörbücher oder das magische Baumhaus. Als Grundschüler hatte ich ja auch noch einen sehr überschaubaren Horizont. Ich spielte bloß in meinem Block oder im Park und wenn es weiterging, fuhren mich meine Eltern hin. Bis auf die wenigen Kids (von denen ich mit niemanden mehr Kontakt habe) hatte ich ja nicht so viel zu tun, außer zu lesen.

Heutzutage schaue ich ja ganz anders darauf zurück. Märchen habe ich damals nur konsumiert, weil mir die Geschichten gefallen haben. Weil meine Mama mir auch die Schönheit der Natur näherbringen wollte (oder so ähnlich). Die Geschichten müssen ja auch simpel sein, damit sie Kinder verstehen. Das bedeutet, dass in einem Märchen immer nur wenige Hauptcharaktere vorkommen und es nicht allzuviele Nebenschauplätze gibt. Zudem spielen „magische Elemente“ mit hinein, die als ganz natürlich angesehen werden. All das hat meinen Kopf vielleicht ein wenig wuschig gemacht.

Aus einer soziologischen Sicht würde man heute sagen, dass Märchen vor allem dazu da sind, um Menschen moralisch zu erziehen. Und gerade bei vietnamesischen Märchen finden sich immer wieder die selben Themen: Die Hauptfigur ist ein einfacher Mensch, der sich ehrlich seine Arbeit verdingt. Dann passiert irgendein wichtiges Ereignis (eine Frau wird eingeführt, ein hinterlistiger Betrüger kommt), dann widerfährt dem Protagonisten irgendwas Schlechtes, aber durch seine guten Taten bekommt er viel Hilfe oder eine übernatürliche Kraft greift ein, die dann doch für Gerechtigkeit sorgt. Und was auch auffällt, ist das die Protagonisten, die ja irgendwie sympathisch dargestellt werden, immer ehrlich sind und manchmal auch ein bisschen naiv dumm.

Ich glaube, das prägt auch so ein wenig die vietnamesische Moral, auch die Geschichten passen ja gut zur kommunistischen Ideologie. Weil es eben Geschichten sind, die die einfachen Menschen als Helden auftreten lassen. Weil daran auch die Mehrheit der Menschen glauben möchte, dass das Gute siegt. Und genau darin liegt auch die moralische Erziehung, dass man durch die Identifikation mit den Protagonisten eine ähnliche eigene Moral aufbaut.

Doch das Leben ist kein Märchen. Je älter ich wurde, desto mehr Menschen drangen in mein Leben ein. Und eigentlich spielten die meisten Geschichten immer auf verschiedenen Schauplätzen und die Probleme sind auch einfach komplexer als in Märchen. Und zudem ist Gott in letzter Zeit ziemlich ein Arschloch. Ich weiß nicht so genau, was ich davon halten soll.

In Russland wird die Literatur ganz anders dominiert. Dort sind die klassischen Geschichten immer eingewoben in Kampf und Krieg. Das liegt natürlich auch an der russischen Geschichte und der orthodoxen Kirche. Ich habe nur mal paar Bücher von Dostojewski angelesen, auch mich mit ein wenig russischer Poesie beschäftigt und immer findet sich dort ein klagender Ton und die Darstellung eines ewigen Kampfes in der Welt.

Und deutsche Märchen fallen mir gerade gar nicht so viele ein (und das obwohl ich früher immer Simsalagrimm geschaut habe). Und ich höre auch niemanden mehr, der über so etwas schreibt. Deutschland ist ein Land geworden, welches sich seiner Geschichten allmählich entleert. Es geht um Fakten, Ordnung und Bürokratie. Was macht ein Mensch, der mit Märchen aufgewachsen ist? Es kann bloß zu einer Entfremdung führen, wenn die Märchen einem Realitätscheck unterzogen werden.

Aber wir leben auch nicht mehr in einer Welt, in dem der Horizont keine fünf Kilometer weit geht. Märchen sind so toll, weil sie einfach zu verstehen sind und uns einen moralischen Kompass bieten. Aber in der heutigen Zeit ist nichts mehr einfach zu verstehen. Man hat ja keine Zeit, sich auf so einen Kinderkram einzulassen. Und zudem sind wir nun so stark in der heutigen Technologie verwurzelt, dass ein Märchen immer wie aus einer anderen Zeit wirkt.

Doch wäre es möglich ein Märchen in der heutigen Zeit zu schreiben? Ich glaube schon, doch sie würden unter ganz anderen Bedingungen entstehen. In einem Märchen sind die Menschen einfache Arbeiter und Bauern, die sich um sich selbst sorgen können. Sie sind nicht so arbeitsspezialisiert, wie in der heutigen Zeit, haben nicht so viel Freizeit. Es sind ganz andere Nöte da, die einen wirklich bange um die Existenz machen. Aber heutzutage klänge das ja alles dämlich. Es gibt halt auch nicht mehr sowas wie einen Bauern mit seiner Familie, der sonst nur die 10 Atzen vom Marktplatz kennt. Dann hat er noch so ne süße Tochter, die heiratswillig ist und dann kommt eine schlechte Ernte und irgendjemand soll sich beweisen und dann verliebt sich die Tochter. Ja, nein. Heute wird alles online erledigt, die Leute gehen nicht mal mehr hinaus, um sich miteinander zu unterhalten. Und eine Reduktion auf wenige Hauptcharaktere erscheint auch immer schwieriger. Und wir haben keine Könige mehr, sondern die Macht ist auf mehrere hundert Leute verteilt, die alle selbst keinen Plan haben, wie sie das Leben der Bevölkerung verbessern können.

Ich gebe natürlich auch zu, dass Märchen ein viel zu einfaches Bild von der Gesellschaft zeigen und dass sie ja auch zur Unterhaltung da sind. Aber ich glaube so ganz kann man sich emotional sich ihnen nie verschließen und gerade das macht einen gerade so traurig. Zum einen fiebert man in Geschichten richtig mit, gleichzeitig erscheint das eigene Leben aber so entzaubert, dass man ja mehr Zeit damit verbringt, irgendwie zu existieren, aber nicht sein Leben zu führen.

Das ist hier super schwierig zu differenzieren, aber mir kommt es so vor, als ob Märchen so aktuell sind wie nie, aber ihre Inhalte sind eigentlich total aus der Zeit gefallen. Und man müsse es irgendwie schaffen, wenn man denn überhaupt noch an Geschichten interessiert ist, den Märchengeist heutzutage wieder einzufangen. Abseits von all den wenn’s und aber’s und realitätsduseligen Fragen. Aber ein Großstadtmärchen ohne Tinder könnte ja doch den Eindruck erwecken, dass das ganz schön weit entfernt von der Realität ist (auch wenn es nicht sein müsste).


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