Was mich heute mehr denn je wundert, ist, dass ich mit meinen zarten 22 Jahren in Diskurse eintauche, die Menschen in ihrem Erwachsenenalter (40+) erst entwickelt haben. Das, was in ihrer langen Lebenszeit in ihre Schriften fließt, ist eben um ihr eigenes Leben entkleidet. Doch das ist die Folge der Wissensakkumulation, dass sie die Details immer auslässt und in kondensierter Form auf die heutige Generation einwirkt. Es ist aber ganz eigenartig, dass dieser Zugang ja doch sehr privilegiert ist. Einige wenige werden letztlich so tief in der Materie drin sein, dass die gesamte investierte Zeit auf sie lastet. Wenn ich mir vorstelle, dass ich später ein kleines Kind großziehen würde, dann würde ich verständlicherweise die vielen Pfade, die ich nun für überholt halte, nicht weitergeben, obwohl diese so entscheidend sind für mein jetziges Denken. Doch gerade, weil ich sie irgendwann verworfen habe, kann ich sie nicht mehr so denken, als würde ich den Moment des Aha-Erlebnisses nacherleben.
Die Diagnose ist daher, dass je weiter man forschen möchte, desto mehr angebliches Wissen der Geschichte wird sich in dem zukünftigen Forscher anstauen. Das ist allerdings auch dem geschuldet, dass die Forschung so globalisiert ist, dass die Einflüsse über Landesgrenzen hinweg so gravierend sind, dass die eigenen Erfahrungen desillusioniert werden, wenn man diese Erkenntnisse ernst nimmt. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum heute nicht mehr von Universalgenies gesprochen wird, weil diese ihre Erkenntnisse aus Umfeld und Lebenserfahrung erlangt haben, heutzutage wird die Lebenserfahrung aber gelernt statt gelebt. Sie wird gelesen statt geschrieben. Ich erinnere mich an ein Zitat, dass in etwa lautet: „Erfahrung ist Widerstand und damit Schmerz“. Und das macht einem doch unglaublich mulmig, wenn man bedenkt, dass Gespräche in der heutigen Zeit zum großen Teil palliativ und ohne großen Schmerz verlaufen. Man unterhält sich halt und tauscht Vorgedachtes aus. Und dass Menschen Vorgedachtes für so wertvoll halten, zeugt gerade für die Faulheit der heutigen Zeit.
Ich denke, diese grobe Skizze ist fruchtbar, um mir selbst der Kunst und anarchistischen Kleinsträumen eine Legitimation zu geben. Zwar spielt dort auch Vorgedachtes eine Rolle, doch da sie sich lokal immer neu expliziert, kann sie sich, wenn sie sich genug vom Anderen abgrenzen kann, ungebahnte Möglichkeiten schaffen. Sehr anstrengende Möglichkeiten, die von den Mustern, denen man seit der Geburt untergeordnet ist, gelöst sind. Doch Muße und Schmerz waren schon immer der Preis, den man für Freiheit begleichen musste. Doch wie kann man einen Menschen, der schon von Kindheit darauf konditioniert ist, seine Unterworfenheit als für ihn faktische Freiheit anzuerkennen, überhaupt dazu bringen, eine komplett neue Lebenserfahrung anzuerkennen? Das wird nur passieren, wenn die Umstände so schlecht werden, dass der neue Schmerz das kleinere Übel im Vergleich zum tatsächlichen Schmerz ist. Doch dieser tatsächliche Schmerz wird nur entstehen, wenn man sich einer Ideologie unterwirft, die anders wirkt als die herkömmlichen. Diese Ideologie muss irgendwie undogmatisch sein, und sie muss den Schmerz als produktives Momentum anerkennen, da sie sich sonst wieder nach der palliativen Sicherheit sehnt, die wir heute gegenwärtig finden. Diese Situation ist doch sehr paradox. Die Auswahl steht zwischen schmerzfreier Unterworfenheit und schmerzvoller Freiheit. Was würde die Psychologie sagen, die doch nichts als den Schmerz als einziges negativ-objektives Moment anerkennt (denn Glück ist pluralistisch, Schmerz universell). Sie müsste jedem Anarchisten widersprechen. Also, wie entkommen wir diesem Dilemma?
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