Ein Schreibprozess eines Schreibers

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Sprache und Bilder. Sie passen gut zusammen, doch unterscheiden sich gewaltig in ihrem Zwecke. Wo ersteres eine festgestellte Melodie zeichnet, die bloß das Geistige erahnen lassen möchte, so betont letzteres die geformte Materie, welche sich für das Subjekt präsentiert. Dies ist der Beginn der Geschichte. Es ist doch schade, dass wir fast nichts von unserer Vergangenheit wissen. Millionen Menschen haben gelebt, ein paar tausend Menschen fanden Gehör. Die Demokratie ist bloß eine Tragik der undemokratischen Geschichtsschreibung. Nun gut.

Das erste Mittel zur Ermächtigung des Bedeutungsvollen war die Überlieferung per Schrift. Es entstanden Dichtungen und Mythen. Und damit meine ich jedes Schriftprodukt. Und jedes Schriftstück ist ein Teil des „ich schrieb“, welches ein Organismus von sich äußern kann. Das kann man auf drei Weisen verstehen: Wer schreibt, der ist; wer schreibt, der wird; wer schreibt, der wird sein.

Im Prozess des Schreibens, bin ich derjenige der produziert. Und zwar nicht nur der produziert, sondern der sich produziert. Das Schreiben ist ähnlich zum Gedankenschweifen: Oh, ich bin hier und denke über dieses und jenes, doch die Gedanken sind frei und sind schon bald Vergessenheit. Nicht so beim Schreiben. Ich schreibe als ein Organismus, der im Prozess des Schreibens, sich vervielfältigt. Auch wenn man in jedem „Ich“, welches geschrieben steht, nur einen Platzhalter versteht, so ist dieser Platzhalter, dasjenige Sein, welches erst durch das Schreiben konstituiert wird. Weil ich schreibe, bin ich. Wenn ich nicht schreibe, bin ich bloß ein Gedanke. Diesen Gedanken kann ich aber nicht als Gedanken niederschreiben, sondern bloß als Schrift. Und so sind Myriaden solcher Gedanken und Ichs verloren gegangen, weil sie nie waren.

Es bleibt nicht beim Produzieren einer Schrift. Die Schrift wirkt ja direkt auf mich zurück. In dem Moment der Konstituierung des Ichs, welches seine Stabilität aus den geschriebenen Sätzen erhält, lege ich mich fest. Das Sein des Ichs ist aber zweierlei: ein Geschriebenes und ein Gedachtes. Das wirkt fast trivial. Doch möchte ich irgendwie die Dialektik der beiden Begriffe erfassen, dass weil ich schreibe, mein Gedanke fixiert ist, der mir nicht mehr entflieht. Damit meine ich, dass ich den Gedanken natürlich vergessen kann, doch er ist gefesselt in einem Medium und wirkt dort mit einer fortwährenden unbestimmten Aura auf einen zurück, da der geistig Gesunde trotzdem der festen Überzeugung sein müsse, dass man selbst ja derjenige sei, der das Schriftstück verfasst hat. Denn andererseits entsteht eine Dissonanz, eine Zweiteilung eines Selbsts (eine Art „fake it ‚til you make/hate it“). Diese Rückwirkung auf einen Selbst führt zu einer Veränderung, zu einem Werden. Wenn ich (als Schreiber) derjenige bin, der etwas niederschreibt, dann bin ich (als das Subjekt des Satzes) existent, welches meine (als Schreiber) Einstellung über mich (als Schreiber) verändert. ### Ich (als das Subjekt des Satzes) bin jedoch noch nicht betroffen, insofern ich (als Schreiber) nicht wieder über mich (als das Subjekt des Satzes) schreibe. Springt man zurück zu den ###, und stelle sich vor, dass alles danach noch nicht gelesen wurde, dann kann man das Hintere noch nicht wissen, insofern man keine Vorannahmen treffen kann, die notwendigerweise zu dieser Überlegung führen (doch dies bloß als spekulativer Einwurf). Die Wechselwirkung des Seins und des Werdens im Prozess des Schreibens spiegeln die Dialektik der eigenen Konstitution – diesmal im Verständnis eines integrierten Subjektschreibers – wieder. Im Schreiben bin ich vollständig in der Rolle meiner eigenen Schrift gefangen. Im Leseprozess lese ich das Werden.

So ist die Konstitution des Schreiber-Ichs ein Produktionsakt. Die Schrift, welches jenes Produkt ist, kommuniziert jedoch nur einseitig. Es kommuniziert als Gewesenes. Wenn wir Platon lesen, dann lesen wir ihn als einen Gewesenen. Und auch er war sich sicherlich bewusst, dass er sich als Schreiber durch seinen Schreibeprozess konstituiert hat (ich bezweifle, dass er sich je erträumte, dass er mal so groß rezipiert wird; hätte er das je in seinen Schriften reflektiert [oder wäre das viel Bekannter], wie würden wir ihn heute sehen? Als einen Wahrsager? Als einen Schwindler?), so musste er darauf bedacht sein, dass seine Schrift voraussetzt, dass ein Ich konstituiert wird, welches sich kohärent präsentieren muss, um verstanden zu werden. Was soll ein Satz wie „wir verstehen Platon“ bedeuten? Es bedeutet bloß, dass wir eine dialektische Figur als ein Gewesenes erfassen, auch wenn es nicht der Tatsache entspricht. Ich bin mir sicher, dass Platon sich nicht gedacht hat, dass er weise war. Zumindest nicht allein, denn wenn ihm das Weise-Sein (z. B. von Aristoteles) zugeschrieben wird, dann wirkt dies auch auf seine Figur zurück. Was ich damit andeute, ist, dass Platon nur derjenige Platon ist, den wir heute sehen, weil er sich produziert hat, und sein Schreibeprozess ihn als Gewesenes, welches war und wurde, als Produkt uns zugänglich.

Diese Bemerkungen treffen nun primär öffentliche Texte. Denn auch wenn dies ein öffentlicher Text sein könnte, so ist er primär als Schreibeprozess zu verstehen, der sich selbst in seinen Schreibprozess einbezieht. Eine Dialektik, die gar nicht erfasst werden kann, wenn nicht selbst geschrieben wird. Eine Möglichkeit herauszufinden, warum man Dinge schreibt, warum man über diese Dinge schreibt, warum dies das Ich konstituiert. Doch wenn die Analyse irgendeinen Zweck haben solle, dann müsse man weitergehen, die Interaktion von Schrift zu beschreiben, insbesondere die von denjenigen, die destruktive Werdensprozesse („Werdegänge“) mit ihren Schriftprodukten befördern.

Wer schreibt, produziert sich. Wer sich produziert, wird nicht nichts.


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