Nachricht eines Todkranken

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Ich sehe überall Narrative, doch ich erlebe nur die wenigsten am eigenen Leibe. Es sind Mythen, die mir Beständigkeit suggerieren. Allen Menschen ist gemein, dass sie ihre Mythen brauchen, um überhaupt als Gemeinschaft existieren zu können – dem Gemeinschaftsmythos. Dieser existiert nicht grundlos, sondern hat seine Funktion. Menschen allein sind keine. Darum hat das Soziale die Arbeitsteilung hervorgebracht und damit einhergehend alle Abstrahierungen, die in der Verteilung von Aufgaben mitschwingt. Die Aufgabe, die nicht mehr erledigt werden muss, übernimmt ein anderer und ist nur noch abstrakt, doch nicht (mehr) konkret begriffen. All das fließt in den Gemeinschaftsmythos, der uns zwar glauben lässt, im Sinne einer Gemeinschaft zu handeln, obwohl doch eigentlich keine:r ein auch nur annäherndes Verständnis davon hat, was Gemeinschaft sei. Mein Verständnis davon ist dieses: Statt mich ständiger Verteufelungen auszusetzen, beschließe ich, mich all dem Guten, was dieses oder jenes sei, zu verweigern, in dem ich bloß das Nötigste tu, um in der Gemeinschaft akzeptiert zu werden, mich ansonsten jedoch allen größten Übeln zuwende, die mir ein abgeschottetes Leben erlaubt. Denn sobald ich über das Nötigste hinausgehe, verwerfe ich zunehmend die Möglichkeit auf Anonymität. Und sobald ich in der Öffentlichkeit bin, sobald ich Teil des Mythos bin, darf man sich keine Unmöglichkeiten mehr erlauben. Ist dies ein gutes Beispiel dafür, dass jede Freiheit, die gewonnen wird, mit einer Einschränkung einhergeht? Wenn dem so ist, dann ist wohl jede:r Lebende zugleich schon todkrank, und erstickt an seinem Mythos, den er sich dauerhaft neu erzählt. Er hat noch Angst, dass alles, was er tat, sich bloß als Schwindel entpuppt.


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