Ich muss mich gerade um etwas anderes kümmern, aber ich finde diesen Gedanken gerade so wichtig, ihn hier kurz auszuführen, da ich es erstaunlich finde, dass ich auf diesen Gedanken erst jetzt gekommen bin. In der letzten Cultural Studies Vorlesung ging es neben Mentalität auch um Habitus, was Bourdieu (1977) als „system of durable, transposable dispositions“ versteht, die „principles which generate and organize practices and representations“ formen. Im Grunde hat er damit die Verbindung zwischen Identität und kollektiver Lebensform (Angewohnheiten, Kleidung, Sprechweise, …) charakterisiert. Ich glaube, ich bin irgendwie immer nur einseitig an die Sache herangegangen, wenn ich die Frage nach der Identität gestellt hatte, nämlich als eine Art Selbstentwurf, der aus einer (geglaubten, und zumindest nicht ganz hinterfragbaren) Freiheit entsteht, die man nun mal hat – man kann nicht den eigenen Glauben bezweifeln (auch wenn Leute gerne was anderes behaupten, aber das ist dann bloß ein als ob und keine wirkliche Praxis).
Natürlich kam es mir bis Anfang meiner 20er immer so vor, als ob ich mir meinen Style und meinen Geschmack irgendwie selbst aneigne, aber man müsste wohl eher davon sprechen, dass er mir angeeignet wurde. Ich hatte früher immer gesagt, dass Philosophie letztlich nur eine Sache des Temperaments und der Vorlieben sei, aber eine genaue Spezifizierung hatte ich meist ausgelassen, da ich es auch nie besser begründen konnte. Ich denke, Bourdieus Ansatz ist ein möglicher Weg zur Erkenntnis.
Das Eigentümliche in den populären Kulturwissenschaften ist ja, dass akademische Kreise überwiegend von einem bestimmten Bild geprägt sind. Akademiker:innen (man stelle sich einen stereotypen Professor vor) gelten häufig als belesen und redegewandt, sie tragen meist einen Anzug oder einen Rollkragenpulli und vor allem haben sie eine beherrschte Körpersprache und Distanz, die auch ihre Professionalität vermitteln. Diese reduzierte Beobachtung wollte ich zunächst einfach darauf zurückführen, dass dadurch, dass einem die ganze Zeit vorgelebt wird, wie Professor:innen erscheinen, dass man sich diesem anpasst, weil man es möchte, weil man sich diesen Lebensstil und diese Erscheinungsweise einverleibt. Bourdieu hingegen argumentiert eher dafür, dass dieser Habitus gezwungenermaßen die gesellschaftlichen Verhältnisse konstituiert und überhaupt eine Unterscheidung zwischen Oberschicht und Unterschicht erst ermöglicht. Sich einen solchen Habitus anzueignen ist nach ihm Voraussetzung, um an einem sozialen und kulturellen Kapital (also den Menschen und ihren Praktiken/Vorlieben wie Hochkultur) teilzuhaben. Es handelt sich um einen Mechanismus, der eine gewisse Klasse (die Akademiker:innen) stabilisiert, ihr eine Form gibt und einerseits einen Zugang erst ermöglicht, andererseits das Andere (z. B. Arbeiter) ausgrenzt.
Es ist doch nicht zufällig, dass ich ein gewisses Ressentiment gegenüber Reichen, Akademiker:innen oder Eliten habe (und damit ihren Habitus eingeschlossen). Allerdings möchte ich an einem gewissen Teil daran partizipieren, beispielsweise an der Forschung. Auch wenn es nicht unmöglich ist, so ist es doch erschwerend, sich in akademischen Kreisen zu bewegen und zu vernetzen, wenn der Habitus (man könnte an dieser Stelle auch von Vertrautheit gegenüber des Betriebs sprechen) unpassend ist.
Einige skizzenhafte Eckpunkte meines eigenen Habitus: Aufgewachsen in einer Unterschichtsfamilie mit Migrationshintergrund in einer ostdeutschen Landeshauptstadt; recht gute Kindheit gehabt (ohne Mobbing oder Schlägereien); regelmäßig Zeit in der Bibliothek verbracht (aber eigentlich nur, weil ich kein Internet zu Hause hatte); frühe Förderung in Schach, Mathematik und Klavierspiel; Freunde aus der Platte; Aktivität in linken, marxistischen Kreisen und Demonstrationen; bis schließlich die Phase des „Cool-Seins“ hineinbrach und damit verbunden eine regelmäßige Drogeneinnahme sowie der ganze Spaß in der Skater-Szene. Und generell müsse ich zugeben, dass einige Charakteristika überhaupt nicht zusammenpassen. Ich glaube, ich muss mich hier bei meinen Eltern bedanken, die zwar wenig Zeit für mich hatten, aber gerade deswegen mir so viele Möglichkeiten gaben, mich von ihnen zu distanzieren und mich an einen gehobenen Habitus (klassische Musik, Bildungsbürgertum, regelmäßiges Reisen durch Schachturniere) ermöglichten. Andererseits gelang die Aneignung dieser Gewohnheiten bloß peripher, bloß in Stücken. Meine sozialen Kreise, in denen ich mich bewegte, hatten doch eine implizite Vorstellung davon, welcher Umgang miteinander gepflegt wurde (beispielsweise ein gewisser Slang, Arbeiter:innen-Attitüde oder die Art und Weise, wie man zu Techno feiert). Und wenn man nun nach der Identität fragt, dann ist diese eben überwiegend angelernt, wenn auch ein Teil evolutionär determiniert ist (Epigenetik oder auch „ich hasse das kalte Wetter hier, weil mein Körper nicht angepasst ist“).
Zum einen ist diese Erkenntnis eigentlich recht einfach. Wenn ich aufsteigen möchte, dann muss ich den Habitus der oberen Schichten annehmen (aka ein Teil der Hochkultur werden) und Teile meines Arbeiterhabitus‘ (aka Subkultur, Gangsterrap und Drogeneinfluss) ablegen. Andererseits möchte ich das ja gar nicht, ich möchte doch meine Aneignungen (man könnte auch sagen, mein Gehirn zwingt mich, meine eigenen Vorlieben auch konsequent zu lieben) eigentlich behalten, sie geben Stabilität im Leben, sie erleichtern es, dass ich mich durch meine Kreise bewegen kann (wenn man das jetzt einfach mal als eine biologische Funktion betrachtet, sich in seinen Umkreisen zurechtzufinden). Ich glaube, dass hier der Zufall mir fast schon eine Aufgabe auferlegt hat: Ich identifiziere mich mit einem gewissen Teil der Unterschicht und habe ähnliche Lebensformen (vielleicht unterschätze ich manchmal die Komponente, dass mein „cooler“, „lässiger“ und „based“ Style doch eine sehr abwertende Erscheinung gegenüber den Eliten ist) und habe so gepaart mit meinen intellektuellen Möglichkeiten, diese in die akademischen Kreise zu tragen. Denn oft wird nur über Gruppen gesprochen und nicht als. Und auch wenn es den Forscher:innen manchmal nicht ganz bewusst ist, so manifestiert die Sprechweise über einen Gegenstand diesen Gegenstand als solchen. Gerade in der geisteswissenschaftlichen Forschung ist es dadurch schwierig überhaupt dessen Gegenstand adäquat beschreiben zu können. Was meinen wir, wenn wir über die Arbeiter sprechen? Ist es überhaupt möglich, dass ein Arbeiter ohne Zugang zu akademischen Kreisen, sich selbst beschreiben kann? Ist es überhaupt möglich, einen adäquaten Zugang zu ermöglichen (denn ich bezweifle, dass die Selbstbeschreibung einem akademischen Stil folgt, eher essayistisch, prosaisch oder vielleicht sogar nur Stichwortweise)?
Das ist alles bloß spekulativ. Doch in den nächsten Jahren der Selbstbeobachtung müsse ich sowohl mein neues Umfeld realisieren (und zwar das Umfeld eines Erwachsenen in einer deutschen Gesellschaft) als auch die feinen Unterschiede (wie sie Bourdieu bezeichnet) zu meiner Kindheit und Jugend erkennen, während ich in akademischen Kreisen umherschweife oder was auch immer mich erwartet (vielleicht werde ich auch ein Schriftsteller à la Bukowski). Spontan sind mir zwei Publikationen ins Auge gesprungen, die einen guten Ausgangspunkt für weitere Überlegungen darstellen könnten: das Buch Habitus Of The Hood (2012) und ein Paper, welches Bourdieus Theorie für eine Soziologie der Liebe (2020) anwendet. Mal schauen, ob ich sie lese oder nicht doch in meine Drogen und Videospiele zurückfalle..
Schlussbemerkung: Ich rede zwar viel über das Akademische, aber der Kernpunkt meiner Überlegungen bleibt immer unter dem Schein einer angestrebten, allumfänglichen Theorie des L[i]ebens (was für eine wunderbare Idee für einen Buchtitel), welche revolutionäre Züge auf die gesellschaftliche Praxis haben soll. Sie wissenschaftlich zu explizieren, kann nicht das Ziel sein. Die Wissenschaft ist bloß ein Aspekt, der wohl der beschwerlichste ist, da er eine gute Kenntnis von Geschichte und Wissenssoziologie benötigt. Der Rest ergibt sich durch das Schaffen in den Sphären von Musik, Literatur und Kunst (man möge ggf. auch noch Religion dazunehmen, vielleicht wäre die Religion der Bahá’í fruchtbar). Nur zusammengenommen kann eine solche Theorie den Anspruch erheben, produktiv zu sein. Wissenschaft allein ist destruktiv.
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