Winterbild

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Ich kann mich sehr gut an die Szenerie erinnern. Es liegt jetzt aber nicht daran, dass es irgendwie ein besonderes Erlebnis war. Eher war es eine ganz gewöhnliche Begegnung, jedoch mit dem Unterschied, dass ich sehr aufmerksam war. Ich hatte den restlichen Tag gearbeitet, sogar recht zielstrebig, doch ich kann mich an nichts Nennenswertes erinnern. Ich war jedoch nicht unaufmerksam, ich hatte nur keine Zeit gehabt.

Ich weiß meistens schon am Morgen, was zu tun ist und da sich mein Körper daran gewöhnt hat, immer zwischen 7 und 9 Uhr aufzuwachen, sind eigentlich gute Bedingungen vorhanden, um einen produktiven Start in den Tag zu haben. Doch in letzter Zeit verhalte ich mich fast tierisch und gebe einfach nur jeder Lust und Laune nach, die mir gerade im Sinn steht, insofern nichts wirklich Wichtiges ansteht (und auch wenn es nicht „wirklich“ Wichtiges gibt, so schätze ich doch, dass mich meine Arbeit daran erinnert, dass ich nicht bloß in einer isolierten Wirklichkeit lebe). An diesem Morgen schnitt ich mir meine Haare.

Ich erinnere mich immer an solche Gespräche, die nach dem Muster ‚Oh, du warst beim Friseur?‘ und dann ‚Oh, ja gefällt es dir? Ich hatte es gerade gefühlt‘ oder eine andere knappe Antwort. Seit dem ich mir die Haare lang wachsen ließ, hatte ich nie mehr den Gedanken gehabt, dass ich meine Haare schneiden sollte, weil sie zu lang waren. Meine Haare schnitt ich seit dem nur noch, wenn ich eine innere Veränderung fühlte. Wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, war es nie so, dass Veränderungen schrittweise auf einen zukamen. Das Leben läuft halt nicht linear ab. Es ist eher kaskadenhaft. Mit Kipppunkten, die Kettenreaktionen auslösen, die das ganze eigene Leben umwerfen können. Es ist nicht so, dass man es direkt sichtbar wird, da Gewohnheiten sehr hartnäckig sind. Doch langsam wirft man nicht nur die eine oder andere Routine ab, sondern ein ganzes Bündel, welches damit einhergeht. Und an diesem Tag ließ ich ein Viertel Kilo Haare ab. Mein Eindruck auf mich hat sich verändert. Ein mittellanger Pony, der mir noch über die Augenbrauen geht, gepaart mit meinen vier Dreadlocks, die sich an meinen Hals schmiegen und meine dicken, schwarzen Haare umrandeten den Rest in Form einer viel zu großen Haselnuss. Ich hatte eine solche Frisur sonst nur bei Frauen gesehen.

Ich war ein wenig spät dran. Da ich zu faul bin zu kochen, war meine Deadline zum Aufbruch immer so gegen halb zwei, damit ich die Mensa erreiche, bevor sie schließt. Und außerdem war das eine gute Zeit, spätestens seinen Arbeitstag zu starten. Nachdem ich das Kantinenessen runtergeschlungen hatte, stand ich nun vor dem Café, rauchte eine Zigarette und beobachtete die Szenerie vor meinen Augen.

Ich war besonders aufmerksam, vermutlich wegen des Haarschnitts. Ich merke schnell Blicke – besonders mit einem veränderten Äußeren. Menschen, wie ich hoffen ja insgeheim, dass Menschen die eigenen Details, die man einstreut, bemerken. Es ist wie eine Art Code, dass man Teil einer Clique ist, die genau die Zeichen kennt. Ab und an gerate ich in solche Gespräche, ich erinnere mich an eine Situation, wo ich auf einem Kongress jemanden mit Basquiat-Stiefeln laufen sah. Ich sprach ihn darauf und wir wechselten nur wenige Worte, da es direkt weiterging. Aber es ließ mich direkt wohler fühlen. Es schwebte eine wohltuende Wissenheit darüber, dass ich einen Teil von ihm verstehe und er andererseits von mir, den sonst keiner versteht und vermutlich nicht mal merkt. Ich schaue nach solchen Details ausschau, und ich glaube, dass machen andere Menschen auch. Sie suchen nur andere Details.

Doch ich stand alleine dort, es war kalt und es schneite. Einzelne Grüppchen waren in Gespräche vertieft und von weitem sah ich zwei bekannte Gesichter. Der erste war ein Typ, den ich seit gut einem Jahr kannte. Er wohnte damals unter mir und wir fanden heraus, dass wir beide gerne musizierten und trafen uns ab und an. Er ist ein sehr talentierter Bursche, aber ich glaube wir hatten schon immer eine gewisse Distanz, die man sich manchmal von Künstler zu Künstler (wenn ich uns so bezeichnen darf) entgegenbrachte. Das gemeinsame Musizieren gab es aber schon lange nicht mehr. Seine Begleitung war eine Erstsemester-Studentin, die ich im vor zwei Monaten auf einer Feier kennengelernt hatte. Ich war dort stark unter Drogeneinfluss und musste einen eigentümlichen Eindruck gemacht haben, doch wir verstanden uns ganz gut, unter anderem weil wir auch paar Gemeinsamkeiten hatte und sie in der Nähe meiner Heimat großgeworden ist. Sie erinnerte mich ein wenig an alte Zeiten. Sie hatte rote, lockige Haare und Sommersprossen und ich kann mich daran erinnern, dass sie während unserer damaligen Konversation immer so ein leicht unsicheres Lachen zwischen ihren Sätzen vorbrachte (das war glaube ich auch dem geschuldet, dass sie im Vergleich zur Partymasse recht nüchtern war). Die beiden blickten zur Bibliothek, allerdings schauten sie mehrere Meter über mich hinweg, wo die Fenster der Arbeitsplätze der Universität waren. Der Typ schlug freudig die Arme nach oben und lachte laut auf während er etwas Unverständliches nach oben rief. Die beiden lachten und grinsten und es fing an zu schneien. Es war einfach ein schönes Bild, zwei hübsche, junge Menschen in ihren besten Jahren (sie waren beide 20), die sich an der Welt erfreuen.

Das Mädchen erhielt einen Anruf und begann in ihr Telefon zu sprechen. Ihr Begleiter blickte noch nach oben, doch als vermutlich auch vom Fenster nichts mehr bekam, stapften die beiden unweit von mir zum überdachten Eingang der Bibliothek, um sich vor dem Schnee zu schützen. Während sie telefonierte lief er hin und her und tanzte um ihr herum, so als hätte er zu viel Energie, die aus ihm hinaussprieß. Es sah ein wenig ungelenk aus, wie bei einem Kind. Aber das war auch angenehm zuzuschauen.

Während ich dort stand und rauchte, bemerkte sie irgendwann meinen voyeuristischen Blick. Sie blickte zu mir und warf mir eine grüßende Handbewegung entgegen und ein unausgesprochenes Hallo und ich grüßte zurück. Im nächsten Moment erschrak ihr Begleiter und schaute zu mir. Er grüßte mich ebenso, doch ich merkte direkt in seiner gehobenen Stimme, dass seine Leichtigkeit sofort verblasste. Nach seiner Begrüßung wandelte er so merkwürdig wie vorher um ihr herum, doch seine Bewegungen waren weniger ekstatisch. Ich glaube, er hatte mich vorher schon bemerkt und es vermieden einen Blick in meine Richtung zu werfen, weil es ihm unangenehm war. Und es kam mir so vor, als ob er halb verwundert war, dass sie mich grüßte, doch es irgendwie auch geahnt hatte. Er meinte im Sommer mal zu mir, dass ich echt jeden kenne. Das sagen mir manchmal Leute hinterher, die sich in ähnlichen Blasen aufhalten, denn die Szene ist hier recht klein und ich hatte in den letzten Jahren viel damit zu tun gehabt. Doch in diesem Fall war es wirklich einfach Zufall.

Es gibt so eine Zeile in Baby Keems „lost souls“: I’m tryna find me a bitch that no one knows. Eine Art Ruf danach, sich jemanden hinzugeben, der aus einer anderen Welt ist, nicht Teil der eigenen. Damit einher geht eine Neugierde und eine Ahnung des außerhalbs, welche einer schönen Einladung gleicht und nicht wieder einer schmerzlichen Erfahrung, wie wir sie in den Katastrophen und Kriegen der Welt erleben. Was für Vorteile man aus der ständigen Vernetzung ziehen kann, ist jedem selbst überlassen. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass die ständige Gewissheit über das Übel in der Welt einen ängstlich machen muss. Dies trifft besonders auf den Künstler zu, der noch nicht den Feuerpfad der Selbstinszenierung betreten musste. Doch all diese Kritik trifft doch nur zu, weil man sich allein gegen die Welt sieht, weil die Gesellschaft uns mit ihrem Individualismus einprügelt, dass das eigene Talent aus einem selbst heraus käme. Doch das ist eine Lüge, denn immer war auch eine Menge Glück und Zufall im Spiel. Und nun stand er dort neben seiner Begleitung, die unentwegt telefonierte, und ist sich des Blickes der Anderen bewusst. In meinem Blick schwang in diesem Moment schließlich nicht nur meine Person mit, sondern generell die Möglichkeit des Gesehenwerdens, die durch mich zur Realität wird. In diesem Moment muss ihm bewusst geworden sein, dass die schöne Einladung, der noch angeblich ungeöffnete Brief, schon mal geöffnet wurde.

Ich weiß nicht. Ich hatte das Gefühl, dass die Entdeckung meiner Person ein ungeheures Klick in seinem Kopf auslöste. Wir hatten früher schon einige Gespräche über Liebe und dieses und jenes gehabt. Ich lieh ihm mal ein Buch, doch weiß noch immer nicht, ob er es gelesen hatte. Gemeint sind die „Briefe eines jungen Dichters“ von Rilke. Ich gab es ihm, weil ich dachte, es würde ihm gefallen. Das Buch beschreibt ja auch ein wenig den Prozess eines werdenden Künstlers, den ich auch in ihm sah. Er hat eine Instagram-Seite, auf der er seine Kunst hochlud, als er noch viel zeichnete und malte. Aber er verwarf dann die Kunst für die Musik und fing komplett neu an. Ich glaube, es gab schon einige Momente, an denen ich gemerkt hatte, dass er sich durch meine Kommentare unwohl gefühlt hatte. Gar nicht, weil sie verletzend sind, sondern weil sie eigentlich nur das aussprachen, was er innerlich fühlte, aber nicht umsetzte.

Ich weiß nicht, ob die Spannung, die ich mir hier erdichte, dort anzutreffen war. Doch der Kontrast zwischen der unbeschwerten Winterstimmung und dem kurzen Aufeinandertreffen war so bestechend, dass es mich wunderte. War ich der Grund? Ich sah keinen anderen. Ich stand die ganze Zeit nur da wie man das so von Rauchern kennt, die leer in der Gegend schauen und nichts anderes zu tun haben, als an ihrer Kippe zu ziehen. Ich beließ meine Körpersprache die ganze Zeit nur bei meinem Grundlächeln und einem leichten Zittern, um mich aufzuwärmen. Doch wie ich seine veränderte Haltung bemerkte, bemerkte ich auch mich selbst und einem inneren Drang, die Szenerie zu verlassen. Das Bild war doch so schön und unschuldig. Eine Komödie, die durch mein Eintreten der Bühne eine Tragik dazu gewann. Ich nahm den letzten Zug, drückte die Kippe im Aschenbecher aus und verschwand in das Bibliotheksgebäude.


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