Ein Selbstgespräch #4

Lesedauer: ca. 12 Minuten

Ich wünsche Ihnen einen schönen letzten Advent. Ein besinnlicher Tag sollte heute sein, finden Sie nicht? Doch gleichzeitig rückt auch ein gefährlicher Todestag näher (denn wie wir wissen, bringen sich Männer an Heiligabend proportional häufig um). Und ich bin jemand, der sich nie viele Sorgen um dieses heilige Fest gemacht hat. Aber nichtsdestotrotz mache ich mir um diese Zeit trotzdem Sorgen, nicht wegen des Festes, sondern weil die Leute nicht mehr arbeiten und ich dann plötzlich gezwungenermaßen zu Hause in Ruhe verbringen muss. Und auch wenn ich tagsüber ein paar Stunden döse oder wie heute mit alten Bekannten und Freunden unterwegs bin, schleicht sich bei mir doch immer dieser Besinnlichkeitsgedanke ein, der mich ein wenig erschaudern lässt.

Der frühe Heidegger meinte, das Dasein ist das Leben zum Tode. Die Grundform der Existenz sei die Sorge, das Sich-Sorgen um dieses oder jenes. Wir hätten Hände damit zu tun, irgendwelche Erledigungen machen zu müssen. Doch bei mir war das nie so richtig ausgeprägt. Ich kenne es einfach nicht so gut. Ich habe früher schon die liebste Zeit in der Bibliothek verbracht, dieses und jenes gelesen und mir war schon früh klar, dass ich irgendwann sterben werde. Und aus irgendeinem Grund habe ich mir früher auch eingebildet, dass ich, wenn ich so viel Unsinn wie früher treibe, einen sehr frühen Tod sterben müsste. Kinder haben komische Vorstellungen manchmal. Ich erinnere mich aber noch an merkwürdige Träume als ich in der Grundschule und in der fünften Klasse. Es war irgendwie immer wieder das Gleiche, alle paar Wochen kam dieser Traum, dass ich an einer Brücke stand und aus irgendeinem Grund bin ich einfach die Klippe runtergefallen. Ich hatte große Höhenangst, aber aus irgendeinem Grund hatte ich weniger Angst vor dem Tod. Dabei sollte doch die Höhenangst eigentlich daraus resultieren, dass man Angst vor dem Tod hatte, oder nicht? Bei mir war es nicht so.

Ich hatte von diesem Traum mal in der fünften Klasse erzählt. Und ich meinte, dass ich aufgewacht bin und dann war mein Penis sehr hart. Alle lachten. Damals hatte ich nicht verstanden, dass der Penis neben der Funktion des Urinierens auch eine sexuelle Funktion hatte, aber ich dachte, dass er auf jeden Fall anzeigt, wenn man wahnsinnige Angst hat. Und ich fand das Wort Penis sehr lustig, aber die anderen lachten nicht wegen dem, was ich gesagt hatte, sondern weil sie über meine Ahnungslosigkeit lachten. Ich weiß gar nicht mehr, ob es mir so doll unangenehm war, ich hatte wirklich wenig Scham (und Anstand), aber ich hatte bis heute nie wieder über diesen Vorfall geredet (zumindest kann ich mich nicht daran erinnern). Doch dieser Traum, der in meiner frühen Jugend immer wieder kam, ich kann mich an ihn erinnern.

Aus diesem Grund begleitete mich der Tod schon mit frühen Erinnerungen. Dass man einfach so eine Klippe hinunterfallen könnte. Und ich glaube, “YOLO” war damals eines dieser Trendwörter gewesen und mir kam es so vor, als interpretierten die meisten Menschen den Ausspruch ganz anders als ich. Ich habe ihn immer sehr ernst genommen und ich dachte mir immer, dass es so viel im Leben zu entdecken gab und ich wollte niemals in meinem Leben jemals alt sein und mir denken “och schade, dass ich dieses oder jenes nicht getan habe”. In all den Büchern, die ich gelesen habe (davon ganz viel das Magische Baumhaus) wurden immer so spannende Geschichten erzählt. Das Eintauchen in wunderbare Welten, die man sich sonst nie erträumen würde. Und ich war beim Lesewettbewerb in meiner Grundschule unglaublich gut und ich erinnere mich, dass uns immer zum Weltgeschichtentag (oder Tag des Lesens oder so) immer ein Buch geschenkt wurde “Ich schenke dir eine Geschichte”. Und aus irgendeinem Grund ist das seit dem das einzige Geschenk, was ich immer haben wollte. Es gab natürlich auch sowas wie den Nintendo DS Lite, den ich mit großen Augen begaffte, aber je älter ich wurde, desto weniger interessierten mich materielle Geschenke. Ich möchte einfach nur eine schöne Geschichte hören. Das ist auch vielleicht der Grund, warum ich es so eilig in meinem Leben hatte: Was ist, wenn ich einfach irgendwie runterfalle und klatsch – bin ich tot. Ich wollte so viele Geschichten in meinem Leben lesen und vor allem leben.

Was mich damals auch angetan hatten, waren Liebesgeschichten. Wissen Sie, wenn man sowas liest, was wirklich halbwegs poetisch geschrieben ist, dann möchte man nicht mehr bloß sowas Stumpfes erleben wie “Wir waren total betrunken, dann haben wir unter Drogeneinfluss sehr viel gelacht und sind in die Kiste”. Sowas hatte ich auch gehabt, aber sowas fühlt sich so banal an, dass ich mich schon fast dafür schämen würde, wenn sowas passiert. Und das ist wirklich eine schlimme Dichterkrankheit: Ohne eine schöne Geschichte fühlt man sich leblos.

Ich hatte mit sieben Frauen bislang eine intime Bettgeschichte gehabt. Aber ich kann ihnen auch sehr genau die Geschichte von ihnen erzählen, die Hintergründe und was ich daran toll fand, gerade mit dieser Frau etwas zu tun zu haben. Es sind Geschichten, die nur deswegen in meinem Leben Bedeutung gefunden haben, weil nur genau diese Frau Teil dieser Geschichte war. Letztlich ist es total egal, was für eine Geschichte es war, denn das Resultat ist schließlich, dass ich mit ihnen einfach nur das getan habe, was junge Menschen tun, wenn sie keine Ahnung haben, was sie sonst miteinander anfangen sollen. (Bitte nehmen Sie meine Aussagen nicht so ernst, ich bin Poet und gleichzeitig Zerstörer, denn die Realität ist ohne Poesie ein nüchterner Ort an dem Dinge einfach passieren ohne dass sie irgendwas Erhabenes haben.) Und die Frauen haben mich bis auf eine Ausnahme alle verlassen. Die haben sich nie für die Geschichten interessiert und vielleicht ist das auch das Schicksal von einem versessenen Schreiberling wie mir. Es sind alles Erzählungen, die einen … nun ja … trösten? Einen daran erinnern, dass man selbst nicht bloß ein zufälliges Konstrukt ist? Das egal, was in meinem Leben passiert, die Geschichten immer bleiben?

Ich komme nochmal darauf zurück: Ich hatte früher große Angst, zu sterben und dabei ein Leben ohne Geschichten geführt zu haben. Es geht nicht darum, wie viele Jahre ein Leben hat, sondern wie viel man gelebt hat. Und meiner Ansicht nach konnte man es einfach extrem beschleunigen – nämlich in dem man viele Anleitungen liest, wie man denn leben könnte (und das dann auch in die Tat umsetzt). Ich hatte beispielsweise eine unglaubliche Angst davor gehabt, als Jungfrau zu sterben. Es ist schließlich so – ich spreche jetzt aus einer gefühlten Wirklichkeit – keine Frau hatte sich je ernsthaft für mich interessiert (also bis auf meine Mutter). Den meisten geht es auch nicht um die andere Person, sondern darum, dass sie jemanden haben, auf den sie ihre Träume projizieren können. Und das ist bei vielen so, bei manchen verschwindet irgendwann der Traum und sie haben das Glück, dass sie gemeinsam in die Realität schreiten. Ich glaube, so entstehen die meisten Paare, sie entstehen mit einem Traum und plötzlich wachen beide auf und merken, dass noch viel mehr dazu gehört als bloß das ewige Liebesversprechen, doch sie wachen gemeinsam auf. Ich hatte sieben Träume gelebt und bin irgendwann alleine aufgewacht. Aber immerhin, ich werde nicht als Jungfrau sterben.

Nach meiner ersten Beziehung stand ja schon fest, dass ich nicht mehr als Jungfrau sterben werde. Und dann stellt sich die Frage “Was möchte ich nun noch unbedingt erleben, bevor ich sterbe, weil YOLO”. Und dann ging es nicht mehr um irgendwen, sondern um die schönste Frau der Welt (ich hatte schon mal an anderer Stelle geschrieben, dass es einfach eine Übertreibung von Liebenden ist – wie könnte man mit jemanden zusammen sein, wenn man nicht denkt, dass es die schönste Frau der Welt ist – und dann besteht nicht die Gefahr, dass man mal fremd gehen würde, wenn man so jemand hat). Und mit meinen zarten 21 Jahren traf ich plötzlich die schönste Frau der Welt. Und es war die schönste Frau, weil sie gleichzeitig tiefsinnig als auch einfach war. Ich kann mich an den allerersten Augenblick erinnern, wie ich mit so einem rot-schwarz-gestreiften Longsleeve und dem Oversize-Basquiat-Shirt und einer leicht zerrissenen Dickies (aber zerissen, weil ich mich beim Skaten gepackt hatte) da saß. Und ich habe sie einfach angestarrt und sie hat einfach zurückgeschaut. Dieses Starren war aber nicht intensiv. Es war wie zwei scheue Rehe, die sich im Wald betrachten (Walter Benjamin würde sagen, da war diese einmalige Aura, eine Ferne so nah sie auch sein mag), aber die Augen nicht voneinander abwendend. Und wissen Sie, das kuriose ist, ich kann mich auch erinnern, dass ich an diesem Abend auch noch irgendwelchen anderen Dinge gemacht habe, mit anderen Frauen gequatscht habe und auch mit Butzi und sonst wem. Aber der Rest ist alles unscharf. Aber dieses eine Reh mit schwarzem Rollpulli, blonden Haaren und so ganz dunklen, warmen Augen hat mich so tief berührt, dass ich diesen Augenblick seitdem nie vergaß. Sie gab mir ihre Nummer und paar Tage oder Wochen später, befand sie sich entblößt in meinem dreckigen Studentenzimmer. An diesem Abend erlebte ich das zweite, was ich unbedingt vor meinem Tod erleben wollte.

Ich habe mich seitdem noch ein wenig rumgetrieben, dieses oder jenes ausprobiert, mich mit mysteriösen Gestalten und Drogen herumgeschlagen. Aber seitdem bin ich frei. Ich bin ein einfacher Mensch, obwohl das viele nicht verstehen. Ich möchte einfach nur eine schöne Geschichte und ich wollte die schönsten Geschichten noch vor meinem Tod erleben. Es war alles viel zu schnell. Es war dann doch stumpfer, als ich es mir erträumte. Ich habe zwar noch Ziele, aber es sind keine Ziele, die mein Leben weiter bereichern würden. Es sind Ziele, die vor allem das Ziel haben, andere Leben zu bereichern. Es ist nicht mehr so, als würde mich irgendwas vor mich hertreiben – eine Zeit lang, nachdem die schönste Frau der Welt verschwand, machte ich ihr den Vorwurf, dass sie mein Leben beendete. Was hat man denn noch für einen Grund zu leben, wenn man die schönste Geschichte bereits erlebt hatte? Seitdem verliebte ich mich in eine zweite schönste Frau der Welt. Und auch da erlebte ich die schönste Geschichte, doch wenn man bereits eine schönste Geschichte kennt, da weiß man gar nicht, ob man diese noch toppen könne (das ist ja auch egal – ich habe jetzt schließlich zwei schönste Geschichten). Es macht keinen Unterschied, ob man eine schönste Geschichte hat oder zwei oder noch viel mehr. Das Schönste war man bereits. Und vielleicht gibt es noch besonders schönste Geschichten, die man erleben könnte, doch es ging mir ja bloß drum eine davon zu erleben (denn vorher hatte ich bloß nur schöne Geschichten erlebt). Wissen Sie, das einzige, was mich ein wenig bedrückt ist, dass meine schönste Geschichte eben bloß meine Geschichte war. Ich glaube, für die Frauen war ich vielleicht was besonderes, aber keine schönste Geschichte. Ich bin bloß ein zerzauster Dichter.

Es tut mir Leid, dass ich Sie mit diesen ganzen Worten volldröhne. Ich gebe zu, ich hatte ja noch eine Verliebtheitsphase gehabt und das eine Lieblingsbuch von dieser jungen Frau noch nicht zu Ende gelesen (ich las etwa ¾ und dann haben wir den Kontakt abgebrochen und ich widmete mich dem Alltagstrott). Was soll man denn tun, wenn man zur Weihnachtszeit zu Hause hockt und schon ein Stündchen gedöst hatte? Das Buch, es könnte selbst eine (tragisch) schönste Geschichte sein. Es ist eine Geschichte, aber ich erlebe sie nicht, daher spreche ich lieber im Konjunktiv. Und es erinnert mich so lebhaft an meine eigenen Gefühle, die ich vor drei Jahren verspürte. Dass Dinge passieren, die einfach magisch sind und man das Gefühl hat, dass es sowas wie Schicksal geben muss. Im Buch gibt es immer Schicksal. Da passiert nichts zufällig. Und wenn man sich selbst eine Geschichte erzählt, war das auch nicht zufällig. Man erzählt eben nur die Teile, die man hören möchte. Die Realität ist natürlich viel komplexer, aber es verändert nicht die schönste Geschichte und vor allem dieses einmalige Gefühl, dass man mit ihr erlebt. Wenn man sich den komplexeren Teil anschaut (z. B. dass es sowas wie depressive Verstimmung, paar weitere Kerle und Verwerfungen gab), dann kommen zu dem einmaligen Gefühl nur weitere dazu. Es ist aber nicht so, dass das Gefühl vom Schönsten irgendwie verblassen würde, sondern es gesellt sich einfach noch Trauer und Scham und Verzweiflung und Einsamkeit und und und dazu. Das sind alles irgendwelche Worte, ich hoffe Sie verstehen aber, wo es etwa hingeht. Ich las nun dieses Buch (es fehlen immer noch 40 Seiten) und ich denke an meine schönste Geschichte. So ist das nun mal. Andere Menschen lesen dieses Buch vielleicht und sie denken, dass sie gerne so eine schönste Geschichte hätten. Und ich – ich halte es nicht aus, dass ich sie schon bereits hatte – dass es mit dem Träumen aus ist.

Wissen Sie, es kommt noch etwas anderes hinzu. Vorgestern war ich mit einigen Atzen aus Erfurt saufen und in einem Club, in dem ich normalerweise nie Zeit verbringe. Einer von den Kollegen hatte als Schönling bereits einen Ruf und wie es das Schicksal wollte, sprach ihn ein junges 18-Jähriges Mädchen an. Sie war wirklich sehr süß. Und ich glaube, an diesem Abend erlebte sie vielleicht eine wirklich schöne Geschichte (vielleicht nicht die schönste). Doch man sah es in ihren Augen an, wie sie verliebt in den Schönling umherlief, naiv und über alles Mögliche lachte, was er sagte. Man kann Menschen ansehen, wenn sie in ihrer Traumwelt sind. Und er, er ist bloß ein halbbesoffener Dude, mit dem ich zu dritt vor ner halben Stunde ein bisschen Koks auf einer stinkenden Toilette gezogen hab, doch er ließ sich von ihren Augen verführen. Er war so ganz ungeschickt auf der Tanzfläche (es lief Mädchen Pop), aber dadurch dass sie da war, ihn an die Hand nahm und eigentlich alles für ihn machte, dass er gar nichts falsch machen konnte, hat sie ihn in ihren Traum eingeladen und egal, wie dreckig die Situation um ihnen herum war, lagen sie sich in den Armen und küssten sich ganz innig, obwohl sie sich erst für eine Stunde kannten. Sie müssen sich vorstellen, ich bin ein Voyeurist. Ich tanze, schließe die Augen und schaue manchmal da hin und kichere einfach, dass ich dabei sein durfte und diese Geschichte als Außenstehender miterleben durfte. Ich habe mir vielleicht auch ein bisschen gewünscht, dass mir so etwas widerfährt, aber eigentlich interessiert mich das nicht. Es ist einfach bloß dieser Wunsch, nochmal so dumm verliebt zu sein, wie man es mal früher war. So verliebt zu sein, als wüsste man kaum etwas von der Welt und erlebt plötzlich dieses ganz Unbekannte aber zutiefst Berührende. Dieses Gefühl vom Unbekannten und zutiefst Berührende, kann man dieses Gefühl nochmal erleben? (Ich muss sagen, bei ihr war es vielleicht das Gefühl vom Unbekannten, ob es sie zutiefst berührte, stelle ich doch ein wenig in Frage – aber sicherlich hat es sie mindestens verzaubert). Ich habe sehr lange nicht mehr das Gefühl vom Unbekannten verspürt, Fremdes ja, aber nicht unbekannt.

Ach ich weiß es nicht genau. Es bekommt mich so Bedürfnis zum Seufzen ohne das ich wüsste, über was es sein sollte. Vielleicht liegt es doch an Weihnachten. Ich hatte vorhin auch überlegt, einen Brief zu schreiben, um diesen irgendwann mal der einen Frau zu geben, in die ich mich zuletzt verliebte (das ist aber nun auch schon ein halbes Jahr her). Einfach für eine Geschichte. Und ich wüsste auch nicht, wem ich sonst einen Brief schreiben sollte. Vielleicht ist es das. Wenn ich jetzt sterben würde, ich wüsste niemanden, dem ich unbedingt einen Brief schreiben wollen würde.

Ich bin ein merkwürdiger Mensch. Leute machen sich sonst welche Gedanken zu Weihnachten. Und ich finde es bedauernswert, dass ich niemanden weiß, dem ich einen Brief schreiben könnte – jemanden, dem ich eine letzte schöne Geschichte schenken könnte.

Aber eigentlich wäre das ja gar nicht so eine schlechte Bedingung, um zu sterben. Ich habe derzeit noch keinen Grund zu sterben, aber immerhin wäre ich dafür bereit, oder nicht? Vermutlich wäre es dem Universum völlig egal…

Beenden wir dieses Gespräch einfach.


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