Ein Selbstgespräch #3

Lesedauer: ca. 9 Minuten

Ich grüße Sie nochmals. Ich hoffe, es stört Sie nicht. Mein Kopf ist wieder ein wenig durch den Wind. Ich glaube, ich habe heute wieder gemerkt, warum ich das Alleinsein doch gerne habe. Wissen Sie, ich erinnere mich gerade an einen Moment vor einigen Jahren. Vor etwa 5,5 Jahren, als ich mit meinem jungen Idealismus noch durch die Welt geturnt bin. Es gab damals so ein Projekt, welches ich sehr bewegend fand, es hieß das “Eye-Contact Experiment”. Es ging darum, dass Menschen sich trafen und begannen, sich einander in die Augen zu schauen, ohne weiter etwas zu sagen. Nur für eine Minute. Sehr intensiv. Ich begab mich damals mit einer Decke auf eine von Erfurts Brücken und bot es den Leuten an, sich zu mir zu setzen und mir in die Augen zu schauen. Die meisten fanden das sehr merkwürdig, aber es gab drei Menschen, die sich zu mir setzten und dieses eigenartige Experiment mit mir durchführten. Eine Frau hatte mich danach sehr innig umarmt und sich dafür bedankt, sie meinte, dass ihr der Moment sehr wichtig war. Schließlich holte mich meine damalige Freundin ab und wir saßen dann auch eine Weile da und sahen uns in die Augen. Sie hatte sehr schöne Augen, grün-blau und noch ein wenig naiv, so wie ich es damals auch war. Es war ein Moment, den ich bis jetzt nicht vergaß.

Es gibt das Sprichwort, die Augen sind der Spiegel der Seele. Und auch wenn es erst wenige Jahre her war, schien es mir, als wären wir damals noch wirklich glücklich. Aufgrund unserer Dummheit. Aufgrund unseres beschränkten Blicks. Ich kannte schließlich nur das kleine, heimelige Erfurt und ich begegnete immer vielen freundlichen Menschen. Und wenn ich mich recht entsinne, schaue ich den Menschen zunehmend immer seltener in die Augen. Ich habe mich sehr gut darin geübt in dieser Disziplin. Kann man das so sagen? Und das ist glaube ich etwas, was mir heutzutage manchmal Angst bereitet. Wenn man sich gegenseitig in die Augen schaut, ohne etwas Größeres dabei zu denken, dann verschwindet die Welt um einen und man ist nur mit dem Anderen. Man ist. Und in diesem Sein, in dem man sich fast nackt anschaut, wird alles andere unwichtig. 

Bei meiner Ex-Freundin war es allerdings ein wenig anders. Ich kannte sie recht gut, besser als jede andere Person sie kannte. Und das, obwohl wir gar nicht so lange zusammen waren. Sie hat es mir sogar so gesagt. Und sie verriet mir auch, dass sie es nicht ertragen konnte, wenn ich sie so ehrlich ansah. Sie hatte eine schlechte Meinung von sich selbst – warum, das konnte ich bis heute nicht ergründen. Ich habe auch irgendwann aufgehört, das zu hinterfragen, sondern es einfach akzeptiert. Ich habe aber genau erkannt, dass sie immer eine große Scham davor hatte. Bei mir selbst kenne ich diese Scham ebenso, denn ich hatte die komische Angewohnheit, mir manchmal selbst im Spiegel für einige Minuten in die Augen zu schauen. Schauen Sie sich auch selbst in die Augen? Das ist ein sehr besonderes Erlebnis, weil man dort zu uneingeschränkter Aufrichtigkeit gezwungen ist. Ich habe es bei mir selbst ebenso akzeptiert, dass ich ein schwacher Mensch bin. Das hat mich stark gemacht.

Gestern begegnete ich einer alten Freundin. Ich hatte nicht damit gerechnet, aber es hat vieles in mir ausgelöst. Sie hieß nicht nur wie meine Ex-Freundin, sondern sie sieht auch noch so ähnlich aus und hat die gleiche Art, alles, was auch nur einige Tage in die Zukunft ging, komplett auszublenden. Das hat mich ein wenig gegruselt, denn auch wenn sie sonst in vielen Aspekten ganz anders ist, war sie in dieser Hinsicht meiner Jugendliebe sehr ähnlich. Und das kann ich nur deswegen sagen, weil ich meine Ex-Freundin so gut kannte.

Die besagte alte Freundin schleppte mich dann ein wenig durch die Stadt. Ich hatte eigentlich noch Dinge zu erledigen, aber Sie wissen ja, dass ich mich gerne hinreißen lasse, lieber menschliche Beziehungen zu erkunden als mich den alltäglichen Verpflichtungen zu widmen. Und sie lud mich ein, mit einigen Freunden von ihr Zeit zu verbringen, die alle ein wenig zu viel Glühwein getrunken hatten. Es war schon witzig und ich konnte mich auch nicht erwehren, einfach viel zu lachen und den ganzen Kitsch, der sich auf dem Weihnachtsmarkt sammelt, mit großen Augen zu verfolgen. Sie hat mich einfach für einige Stunden aus meinem Alltag herausgezogen und in eine Gesellschaft geworfen, der ich in diesem Jahr lange nicht mehr begegnet war. Doch wissen Sie, es ist eigenartig, diesen Menschen in die Augen zu schauen. Es ist eine Mischung aus Faszination und gleichzeitig bin ich mir nie sicher, ob man sich aufrichtig begegnet. Ich spürte immer einen Hauch von Eskapismus, Hedonismus und Seinsvergessenheit. Und ich glaube, Menschen fühlen sich in meiner Gegenwart häufig beobachtet. Ich fühlte mich etwas fehl am Platz und auch wenn ich das artikulierte, sagten sie, es sei alles gut.

Und wissen Sie, wenn ich von Hedonismus und Eskapismus rede, dann rede ich auch immer von Trauer. Ich habe an mir selbst lange dieses Träumertum beobachtet und ich erkenne dieses Träumertum auch bei anderen Menschen sehr schnell. Ob das nun wirklich so ist, kann ich ja eigentlich nicht beurteilen. Aber wissen Sie, ob man richtig liegt, kann man zumindest teilweise testen, wenn man die Schlussfolgerungen in Hypothesen übersetzt und wenn diese eintreffen, dann spricht das dafür, dass man richtig lag. Ich liege auch ab und an falsch, aber häufiger (ich schätze mal ca. 80% der Fälle) liege ich richtig. Ich sehe eben nicht bloß die oberflächliche Freude, sondern ich kenne auch sehr gut die darunterliegende Trauer. Im Eskapismus ist es doch schließlich so, dass man der Realität entflieht, dass man die Realität (mittels Drogen) künstlich verändert und sich eine Atmosphäre schafft, die heimelig ist. In der man sorgenfrei alles ausblendet, weil einem die Last des Alltags zu schwer ist. Und auch wenn man sich nicht viel dabei denkt, es geht schließlich einfach nur um ein bisschen Spaß, dann bleibt doch die Frage: Kann man nicht glücklich sein im Alltag, in dem man überhaupt nicht flieht, sondern in seinem ganzen Tun einfach da ist und mit voller Kraft sich der ungeschönten Realität stellt? Welchen Grund sollte man haben, der Realität zu entfliehen, wenn die Realität bereits so schön ist, dass man daraus gar nicht entfliehen möchte?

Ich entfliehe in letzter Zeit sehr selten der Realität. Ich bin – trotz ungünstiger Umstände – ein recht zufriedener Mensch. Und ich möchte auch nicht sagen, dass meine Realität durch große Glücksgefühle geprägt ist, sondern eher durch eine Balance, die ab und zu ein wenig nach oben und unten ausschweift, aber häufig doch wieder zu einer positiven Mitte zurückkehrt. Ich kenne aber auch gut das Leben, welches wie bei einer bipolaren Störung zwischen größter Freude und tiefster Trauer schwankt. Doch seitdem ich mich nicht mehr den großen Exzessen widme, sondern eher nach einer Mitte suche, hat es mich nie groß gestört, dass mein Leben etwas langweilig geworden ist. Ich mache trotzdem immer wieder neue Bekanntschaften und Fortschritte in meinen langfristigen Plänen, das ist die Quelle meiner Gelassenheit. Aus dieser Mitte heraus meine ich doch zu erkennen, wenn etwas “zu viel ist”. Dies war gestern der Fall, es war sehr schön, aber auch zu viel (das merke ich spätestens dann, wenn Menschen statt einfach den Pegel zu halten, dann doch zu Koks und Schnaps greifen). Ich merke das auch heute, dass obwohl ich nicht viel getrunken habe, aber doch eine Menge eskapistischen Spaß hatte, eine leicht mulmige Tagesnote verspürte. Der Körper strebt, so meine system-kognitivistische Sicht, immer nach einem Gleichgewicht und überschwängliche Freude hat immer den Preis einer gewissen negativen Seite.

Ich hoffe, dieses Urteil stört Sie nicht. Es macht mir manchmal Angst, diese mitzuteilen, denn das bedeutet, wenn man von größter Freude spricht, auch von großer Trauer sprechen muss. Menschen sind dann alleine traurig, sie kehren in sich ein, weinen unter den Decken und wenn sie hinaus in die Welt können, dann decken sie sich mit den größten Süchten und Lastern der Welt ein, um diese Trauer vor der Welt zu verbergen. Und weil sie oftmals denken, sie seien damit ganz allein, haben sie noch größere Angst, dass jemand aufdecken könnte, dass sie eigentlich doch sehr traurig sind. Ich wünschte, ich bildete mir das alles nur ein. Aber Studien und meine Erfahrungen berichten Gegenteiliges.

Ich begann mit einer Bemerkung dazu, dass ich das Alleinsein sehr genieße. Wissen Sie, ich kenne nicht viele Menschen, die eher nach einer geordneten Mitte streben. Und noch weniger Menschen kenne ich, die das so genau reflektieren. In der westlichen Welt ist das selten. Es wurde uns nie beigebracht. Und nicht jeder hat ein Bestreben danach, das, was uns beigebracht wird – das ist z. B. Konsum, Scham und Sucht – zu hinterfragen. Dann müsste man sagen, ich mache das, was jeder macht, radikal anders. Ich mache etwas, womit ich rechnen muss, dass niemand es versteht, dass ich vielleicht alleine ende. Es erfordert sehr viel Mut, zumindest behaupten das Philosophen, aber mein inneres Gefühl sagt mir, dass es vielleicht nicht ganz falsch ist. Und Mut ist etwas, was den meisten auch nicht beigebracht wird.

Vielleicht interpretiere ich das auch nur so, damit ich das Alleinsein rechtfertigen kann. Klingt doch schön, wenn das Alleinsein als Stärke interpretiert wird. Aber eigentlich, das habe ich etwas weggelassen, ist das Alleinsein auch eine große Schwäche von mir. Denn in der Gesellschaft sehe ich so häufig diese Trauer. Überall. Ich habe vor einigen Jahren mit einer Frau dieses Gespräch auch geführt. Sie machte mir die Ansätze meiner damaligen Dreadlocks. Sie hieß – der Zufall ist wirklich sehr merkwürdig – genauso wie meine Ex-Freundin und die alte Freundin von gestern. Und sie sagte mir genau das Gegenteilige, wenn man weiß, dass Trauer da ist, warum sieht man nicht eher zum Gegenstück, zur Freude? Sie gab mir durchaus recht, dass man die Trauer wahrnehmen kann, aber man kann doch stattdessen genauso gut die Freude oder das Glück wahrnehmen? Also was hat es damit auf sich, dass ich mich so darauf versteife?

Vielleicht verrate ich Ihnen das ein anderes Mal. Vielleicht weiß ich es selbst auch nicht so genau. Ich weiß nur, dass ich das Gefühl habe, dass das Glück eben in der Realität, fest verankert im Leben, mit all seinen Herausforderungen sein sollte. Das Glück, welches einem vom Alkohol oder Drogenkonsum widerfährt, ist dieses Glück wirklich aus der eigenen Kraft heraus? Und da habe ich mich doch von vielen Philosophen einlullen lassen, dass es mir immer um Wahrhaftigkeit geht, dass wahres Glück immer zu spüren ist und nicht, um der Trauer zu entfliehen, sondern weil wahrhaftiges Glück Trauer als ein Geschenk betrachtet. Wissen Sie, ich beklage mich schon ein wenig darüber, wenn ich Trauer verspüre. Aber gleichzeitig weiß ich auch, dass Trauer zum Leben dazu gehört, dass ein ehrliches Leben doch nur lebenswert ist, wenn man so etwas verspürt. Dass das Leben nicht bloß monoton ist, sondern vielseitig und dass man keine Angst verspürt, diesen unangenehmen Erfahrungen ins Gesicht zu blicken. Ist Trauer in diesem Sinne dann nicht etwas Großartiges? Ist diese Trauer nicht eine Erinnerung daran, dass wir Menschen sind, die nicht bloß wie Maschinen funktionieren (denn wenn man bloß ein freudiges Gesicht abgibt, dann funktioniert man eben für die Gesellschaft)? Es ist genauso wie das Kranksein. Erst wenn wir krank werden, freuen wir uns darüber, dass wir doch häufiger gesund sind und lernen es besser zu schätzen.

Ich glaube, ich verquassele mich ein wenig. Letztlich ist es ja auch egal, wie wir unser Leben selbst beschreiben, denn das Leben leben ist nicht gleich das Leben zu interpretieren. Aber das Interpretieren ist eine Art Bewältigung (zumindest meint Rorty es), dass man zumindest weiß, warum Dinge passieren und dass man dem nicht ohnmächtig ausgeliefert ist, dass sie passieren. Vergessen Sie nicht. Nehmen Sie es nicht zu ernst. Wenn Sie das Gefühl haben, dass das, was ich schreibe, Unfug ist, dann vergessen Sie es lieber.


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