Die Frage nach dem Sinn eines individuellen Lebens ist eine recht veraltete Frage. Doch obwohl ich irgendwie schon bejahen müsse, dass es aus philosophischer Sicht keine befriedigende Antwort darauf gibt, was denn der Sinn des Lebens ist, so kommt man aus irgendeinem Grund doch immer wieder dazu, danach zu fragen. Günther Anders bemerkte dazu einmal, dass die Frage danach ja immer mit einem „und was ist der Sinn vom Sinn?“ und „was ist davon der Sinn?“ sich unendlich fortführen lässt. Doch darauf eine philosophische oder metaphysische Antwort zu geben, habe ich seit der Lektüre von Nietzsche und der kritischen Theorie schon seit drei Jahren aufgegeben.
Daher stelle ich die Frage nach dem individuellen Sinn aus einer pragmatischen und psychologischen Sicht. Es wäre natürlich befriedigender, wenn man eine universelle Antwort findet. Doch ob diese Antwort dann in irgendeiner Weise dazu beiträgt eine Besserung für das eigene Leben herbeizuführen, ist dann auch eine bloße Wette. Und ich wette (nüchtern) sehr ungerne. Ich frage daher eher danach, ob es das Leben lebenswerter macht, diese Frage zu stellen und dies müsse ich doch bejahen.
Ich bin vor kurzem auf den Neurologen Viktor E. Frankl gestoßen und habe sein Buch „… Trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ gelesen. Auch wenn es fragwürdig ist, dass sich die Mehrheit von diesem Buch angesprochen fühlt, so ist es doch sehr interessant, den Kontrast zwischen dem heutigen Leben, in dem jeder fast alle Möglichkeiten hat, und dem KZ-Leben, in dem man praktisch aller Möglichkeiten beraubt ist, zu betrachten. Es ist wohl sehr unanständig, die Folter eines KZs mit der heutigen Zeit zu vergleichen.
Doch Frankl selbst schrieb, dass es unerheblich ist, wie schlimm es denn sei: Jeder durchlebt sein eigenes KZ. Und gerade die letzten Jahre gleichen einer kollektiven Neurose, in der wir die Corona-Pandemie durchlebt hatten – in der wir aus unserem alltäglichen Leben in einen Ausnahmezustand von gefühlter Unfreiheit gestoßen worden sind. Gewissermaßen bin ich immer noch erbost darüber, dass ich zwei Geldstrafen zahlen musste, obwohl ziemlich sicher keine reale Konsequenz (also ein Tod) verursacht wurde und ich zumindest die Sinnhaftigkeit des Eingesperrtseins stark hinterfragte. So wie sich die Häftlinge den willkürlichen Folterungen der SS-Männer ausgesetzt sahen, so kamen mir einige Punkte der Corona-Politik vor wie eine Bestrafung durch das Gewaltmonopol der Regierung (und der Leser darf mir in dieser Hinsicht gerne widersprechen). Und vielleicht muss ich diesen unanständigen Vergleich auch ziehen, da unsere Generation gar nichts Schlimmeres erleben konnte, was wir unseren fleißigen Vorfahren zu verdanken haben.
Es ist jedoch vor allem diese Erfahrung, dass man in seinem Körper und seinem Handeln so massiv eingeschränkt wurde, dass man nicht mehr frei entscheiden konnte und auch nicht frei sprechen durfte. Dass man das Gefühl einer ständigen Kontrolle, einer ständigen Bestrafung ausgesetzt war, wenn man sich nicht den Regeln fügte. Natürlich hatten die Maßnahmen einen rationalen Zweck, doch emotional und psychologisch gesehen, war dies doch eher eine Unterdrückung – insbesondere im ländlichen Raum. Der gefühlte Verlust der Freiheit war zugleich der gefühlte Verlust der Demokratie und Wirkerfahrung. Und ebenso wie die Häftlinge bloße Nummern waren, so waren meine Geldstrafen bloße Aktenzeichen.
Andererseits ist es nicht nur diese Erfahrung, die einen die Sinnhaftigkeit des Welttreibens fragwürdig erscheinen lässt. Die Profiteure waren multinationale Digital- und Pharmakonzerne. Und wer genug Geld hatte, konnte sich seine Freiheit ohne größere Probleme kaufen. Und selbst die Massen wurden mit wenigen Almosen und ermutigenden Worten abgespeist, die jedoch an der Lebensrealität nur wenig veränderten.
Wenn wir nun bei dieser Analogie bleiben, dann erinnere ich mich, dass das erste Jahr weniger schlimm war, als erwartet. Ich hatte noch große Pläne und einen Lebenssinn – mein Plan zwischen 2019 und 2021 war es noch Journalist zu werden und die Massen durch kluge, unkonventionelle Nachrichten zu beeinflussen. Meine eigene Vision vom Leben konnte mir die Politik damals noch nicht nehmen und ließ mich mein Studium die ersten zwei Corona-Semester noch sehr stringent durchziehen. Und auch nachdem ich merkte (gerade durch die Corona-Berichterstattung), dass unser journalistisches System überwiegend von fragwürdigen, zu systemtreuen (und teilweise zu regierungstreuen) Menschen kuratiert wird, folgte eine Zeit der Sinnlosigkeit und das Abdriften in eine Cannabissucht, die mir rückblickend sehr surreal vorkommt.
Frankl zitierte Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“. Doch was ist nun, wenn man für sich feststellen muss, dass das Warum eine bloß romantisierte Vorstellung war, die ein authentisches Wie praktisch ausschließt? Ich studiere Philosophie und Neurowissenschaften und Plan A und B (das war dann die akademische Karriere) wurden durch den Umgang mit Corona und dem kritischen Hinterfragen unseres ideologischen Wissenssystems für mich zerstört. Selbst mein Aktivismus in der linksgrünen Bubble hatte meine Erwartungen, dass sich irgendwas realistischerweise zum Guten wendet, zunichte gemacht. Denn die traurige Wahrheit ist, dass schöne Worte die Realität nur anders interpretieren, aber nicht verändern. Und im letzten Jahr ist meine Hoffnung auf einen Sinn hinter irgendwas nach der Trennung mit meiner Ex-Freundin, die für mich einem Lottogewinn glich, komplett hinter einem Nebel brennender Joints ausgelöscht. Und ich schätze, dieser letzte November war der Beginn der gefürchteten Quarter-Life-Crisis.
Ich glaube, ich habe aber auch verstanden, warum nach solch großen Enttäuschungen, ein Mensch beginnt, sich nur noch um Geld zu sorgen, da in einer solch kapitalistischen Welt, sich ja doch fast alles mit Geld kaufen lässt, und dies sind in diesem Fall Aufmerksamkeit (was Qualitätsjournalismus fast obsolet macht), Publikationen und gewissermaßen auch Liebe. Für die meisten Institutionen und Konzerne sind die einfachen Menschen ja doch bloß Konsumenten und Zahlen, was es schwer macht, sich diesem Business-Roulette zu entziehen. Man hat das Gefühl, um erfolgreich zu sein, muss man als Mensch sterben.
Es stellt sich nicht die Frage nach dem Sinn, sondern die Frage, wie man am besten die Welt so manipulieren kann, dass man nicht vor die Hunde geht und nochmal so jämmerlich ohnmächtig wird. Ich glaube, darin besteht die kollektive Neurose. Und sich diesem zu widersetzen erfordert einen starken Charakter und eine gut geschulte moralische Haltung. Und letzteres ist wohl das einzig praktische, was ich mir im Studium bescheren konnte, auch wenn die letzten Monate doch noch sehr neurotisch waren.
Es war dann tatsächlich die Begegnung mit einer jungen Frau, die mich aus irgendeinem Grund aufwachen ließ. Ich habe auch keinen Kontakt mehr zu ihr, doch in ihrer Erscheinung steckte eine verborgene Erinnerung, die durch die Nebelschwaden zu mir hindurch drangen. Laut Frankl gibt es drei Arten, wie Menschen einen Sinn finden können und diese finden sich in der Liebe, in der Arbeit und/oder darin, sich selbst in den Dienst einer größeren Sache zu stellen. Ich hatte den Samen aller drei Arten sehr deutlich gefühlt (sie ist eine sehr warme, angehende Therapeutin) und das ist wohl etwas, was ich eher selten finde, was wohl meinem selbstverschuldeten, hedonistischen Umfeld liegt. Doch auch wenn mir dieser Crush nach zwei Wochen eine Absage erteilte, hatte ich etwas gespürt, was mir lange versperrt blieb: Dass all der Unsinn, den ich fabrizierte, doch einen persönlichen Sinn hatte.
Wenn man in so einem nebligen Dauerzustand ist, dann schiebt man ja bloß alles vor sich her und jede Entscheidung fühlt sich an, als würde sie keinen Unterschied machen. Das ist das Gefährliche, wenn man die Gleichgültigkeit als das angenehmere Übel ansieht. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass man zwar die Entscheidungen, die das Leben von mir fordert, hinauszögern kann, doch davor weglaufen, konnte ich nicht. Es ist sehr banal. Aber mit einem starken Willen, wirkt alles banal, genau so wie ein schwacher Wille jede Entscheidung wie eine Mordsaufgabe erscheinen lässt.
Und ich glaube, das ist ja schließlich doch das, was einen starken Willen schult: Die ständige Rückbesinnung auf einen zukünftigen Sinn. Dass ich diesen Blog seit über vier Jahren führe, hat ja auch keinen tieferen Sinn, wenn man bedenkt, dass ich keine besondere Lebensleistung vorzuzeigen habe. Persönlich ist es jedoch ganz nützlich, wenn man seine Gedanken ab und an sortiert. Und eines Tages (diese Phrase erinnert mich an den gleichnamigen Song von den fantastischen Vier) „ergibt alles einen Sinn“.
Ich habe nun einige Entscheidungen getroffen, die mein Leben wieder ausrichten. Ich ziehe im November zurück in meine Heimatstadt Erfurt, die ich über alles liebe, und steige wieder dort in die städtische Kultur ein. Ich möchte nun auch den dualen Lehramtsstudiengang für Regelschulen in Mathe und Technik anpeilen, quasi die nächsten Generationen an Arbeitern ausbilden. Und vielleicht stehe ich irgendwann am Rednerpult in einer Schulaula und verabschiede einen Jahrgang als Schuldirektor, und habe die Möglichkeit, meine unbedingte Hoffnung an eine noch schönere Welt als heute weitertragen zu können.
Meine großen Träume meiner Kindheitszeit sind vorbei. Der Versuch, einen monumentalen Durchbruch in der Wissenschaft oder Öffentlichkeit zu machen, hat mich bisher nur verbittert. Die nötigen Ressourcen und Kräfte liegen bei anderen Menschen. Das einzige, was mir bleibt, und das sehen ebenso Frankl und der renommierte Albert Einstein, sind mein Leben auf die Reihe zu kriegen und ein Vorbild für die Generationen nach uns zu werden, so wie es die großen Vorfahren vor uns gemacht haben. Und auch wenn es nicht das ist, was ich mir als Jungspund erhofft hatte, so ist es wohlmöglich dasjenige, wofür ich am ehesten geeignet bin. Um mit den Worten von Frankl zu enden: „Es kommt nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben zu erwarten haben, viel mehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet“.
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